Es war ein langer und erfolgreicher, zivilisatorischer Prozess, bis es uns als Menschheit gelang, von der Sippenhaftung über „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ zur Vergebung durchzudringen.
Die Etablierung der „Unschuldsvermutung“, die auf den französischen Kardinal Jean Lemoine und im deutschsprachigen Raum auf den Jesuiten Friedrich Spee zurückzuführen ist, war ein weiterer epochaler Schritt in eine humane Gesellschaft, in der die Freiheit und Würde des Individuums rechtlich verankert werden konnte. „Im Zweifel für den Angeklagten“ gilt heute als Grundprinzip eines rechtsstaatlichen Strafverfahrens.
Sollen Maßnahmen- und Impfkritiker, für die seit Beginn der Pandemie die Schuldvermutung gilt, deren Würde und Grundrechte mit Füßen getreten werden und die aus der Gesellschaft gnadenlos ausgeschlossen wurden, diese Errungenschaften nun über Bord werfen und Vergeltung fordern?
Gleich vorweg: Ja, ich bin dafür, die zuständigen Personen zur Verantwortung zu ziehen, jedoch im Geiste der Verzeihung.
Als das deutsche Bundesinnenministerium sein Strategiepapier formulierte, in dem es bewusst forderte, selbst unseren Jüngsten Angst einzujagen, schrillten bei allen, die noch Empathie empfanden, die Alarmglocken. Bewusst wurde in Kauf genommen, unschuldige Kinder von Hoffnungs- zu Virenträgern umzudeuten und sie mittels Angst als Gefährder für ihre Großeltern zu framen.
Im Kern erleben wir ein modernes Kinderopfer für einen Todeskult, der das Leben anhalten möchte, um dem Tod zu entrinnen. In dieser Verdrehung wurden wir zu Schutzbefohlenen der Kinder statt umgekehrt. Die Rückkehr der Angstpädagogik und das ständige Arbeiten mit Angst und Bedrohungsszenarien machten es möglich, einen Krieg gegen das Leben, das Menschsein selbst zu beginnen.
Gerade der körperliche, soziale und psychologische Ausschluss jener großen Minderheit, die sich nicht impfen lassen möchte und Kritik an den Maßnahmen übt, kommt einem Sündenfall gleich.
Die rote Linie der Diskriminierungsverbote wurde und wird von jenen deutlich überschritten, die in einem Akt der Selbstgefälligkeit und moralischen Selbstüberhöhung die Empathie völlig aus den Augen verloren haben.
Es wäre dringend notwendig, die Diskriminierungsverbote um den Impfstatus zu erweitern. Die Gesellschaft ist tief gespalten, wahre Schluchten haben sich in den letzten Monaten aufgetan.
Sollen wir nun jene anklagen, die für diese Misere verantwortlich sind? „Hasse die Sünde, aber nicht den Sünder“, formulierte einst der englische Maler und Dichter William Blake. Man könnte diesen Satz auch positiv umformulieren: „Liebe den Sünder, aber nicht die Sünde.“
Dies ist sicherlich nicht einfach, wenn wir in das exemplarisch wahnhafte Gesicht eines Karl Lauterbach blicken, der beinahe täglich die Angstsirene bedient und Bachs „Es ist nichts Gesundes an meinem Leibe“ (LBWV 25) lauter singt als alle anderen. Wir sind aber aufgerufen, das Unmögliche zu schaffen: zu verzeihen und zugleich die Täter aufgrund ihrer Taten zur Verantwortung zu ziehen.
Gerade diejenigen, die keinerlei Einsicht zeigen und Fehler unvermindert fortsetzen, benötigen Konsequenzen. Ohne diese ist Lernen kaum möglich. Ist ehrliche Einsicht vorhanden, werden die Konsequenzen beziehungsweise das Strafausmaß abgemildert, da ein Lernprozess zu beobachten ist.
Dies alles betrifft Tat und Motiv, nicht den Menschen selbst. Diesem können wir aus freien Stücken verzeihen, ihn lieben. Jesus, der den goldenen Schlüssel der Verzeihung brachte, nannte dies „Feindesliebe“.
Diese feine Unterscheidung ist vonnöten, der schmale Grat will gegangen werden, um auf dem Tandem von Verzeihung und Recht Richtung Utopia fahren zu können.
Wir müssen den bewussten und unbewussten Tätern in einem Akt der Selbstliebe Einhalt gebieten, denn sie werden sich selbst nicht bremsen wollen. Das verpflichtende Tragen von Masken und die Nötigung zu einer experimentellen Impfung, die nur die Sp(r)itze jenes Eisbergs darstellt, welcher als Transhumanismus benannt werden kann, stellen letztendlich eine Straftat dar. Allein der bitterst erkämpfte Nürnberger-Kodex winkt eindringlich aus der Vergangenheit.
Die massiven Einschränkungen der Grundrechte, die in Kauf genommenen dramatischen Kollateralschäden und das bewusste Ausgrenzen jener, die nicht mit der Herde liefen, bedürfen ganz konkreter Konsequenzen und Aufarbeitung. Die Wunden der Spaltung wollen geheilt werden, das Zuhören will wieder gelernt sein. Brücken können ohne die Würdigung der Wunden jedoch nicht gebaut werden.
Recht und Verzeihung wollen gemeinsam tanzen. Vergeltung wird uns nicht helfen, genauso wenig wie falsch verstandenes Verzeihen, das einer Aufarbeitung im Wege stehen würde.
Es ist zusätzlich an der Zeit, neue, lebendige Systeme der Wissenschaft, Kunst und Religion für die Zukunft zu entwerfen – vor allem im Bereich der Bildung und der Medizin.
Stoßen wir mit den Gläsern der Gerechtigkeit und der Verzeihung auf das Leben an!
Auf den Klang des Lebens!
von Gerald Ehegartner