Gedanken in Zeiten des vierten Lockdowns.
Je mehr Dinge es auf der Welt gibt,
die man nicht tun darf,
desto mehr verarmt das Volk.
Lao-Tse im „TaoTe King“
Essay von Simon Konttas
Helsinki/Wien.- Ein Flug nach Finnland ist nicht billig. Er kostet bis zu 400 Euro. Letzten September hätte ich nach Helsinki fliegen sollen; so wie ich es oft mache, meist ein Mal im Jahr; diesmal, um, sozusagen nur zum Vergnügen, meinen Vater zu besuchen. Bloß das Dumme: Ich habe Flugangst.
Die Angst ist – weiß der Kuckuck, warum – in den letzten Jahren immer ärger geworden; allerlei seltsame Schreckensvorstellungen plagen mich schon Tage vor einer Reise und summieren sich in meiner Seele zu einem Gemisch beklemmend-bedrückenden Unbehagens. Ich werde nervös. Es gelingt mir nicht, die mir allerlei Tödliches vorgaukelnden Fantasien loszuwerden; es überkommt mich die Lust, mich zuhause zu verbarrikadieren. Ich hyperventiliere und bekomme Herzklopfen und dumpfes Kopfweh. In so einem unersprießlichen Zustand stand ich letzten September am Gate des Flughafens und sagte mir vor – nach dem Motto „Sie liebt mich, sie liebt mich nicht“: Ich fliege, ich fliege nicht, ich fliege, ich …nein! Und schwankte in Erwartung eines erlösenden Hinweises, eines göttlichen Zeichens, was ich nun tun solle; bis ich kurzerhand entschied, dass, wenn ich schon heil in Helsinki ankäme, ich im Flieger, in diesem furchtbaren Zustand, an einem Infarkt stürbe. Und so rief ich meinen Vater an und sagte mein Kommen ab. Ich ergriff stracks meinen Rollkoffer, taumelte noch in angstvoller Bedrängnis durch die Abflughalle, stieg in den Zug und fuhr wieder Nachhause. Die Hyperventilation ließ allmählich nach. Und ich schlief drei Stunden lang am hellichten Tage. Erlöst und erleichtert, während draußen der klarste Nachsommer blaute.
Heute – angesichts der in diesen Tagen und Monaten wegen der Pandemie herrschenden Ängste – frage ich: Was, wäre ich in Helsinki zu einem Vortrag eingeladen gewesen? Das heißt, wenn mich unzählige Menschen erwartet hätten? Wenn ich also hätte hinfliegen müssen? Oder wenn ich dort ein Bewerbungsgespräch hätte absolvieren müssen? Hätte ich es mir dann – buchstäblich – leisten können, meiner Angst nachzugeben? Oder wäre ich ins Flugzeug gestiegen, mich mit allen Fasern meines Willens zusammenreißend, mit Baldriantropfen und diversen Beruhigungstabletten sediert –, weil mir ja nichts anderes übrig geblieben wäre?
Letzten September habe ich meiner Angst nachgegeben; mich der Gefahr nicht gestellt. Ich konnte es mir leisten. Das Geld? War mir egal. Ich konnte es sozusagen aus dem Fenster schmeißen. Aber was …. hätte ich es mir nicht leisten können?
Der durchschnittliche Demonstrant? Menschen wie Du und ich?
Es ist müßig, es zu schildern: Unzählige Menschen gehen auf die Straße, weltweit, nicht nur hierzulande, um gegen die das Leben beschränkenden Maßnahmen der Regierung zu protestieren. Wer sind diese Demonstranten und was bewegt sie? Was sind es für Menschen?
Neulich habe ich einen Artikel über dieses Thema in der Wiener Zeitung konsultiert und mich belehren lassen: dass der durchschnittliche Demonstrant 48 Jahre alt sei, weiblich und Einzelunternehmer. Da musste ich stutzen. Ach, sieh an! Einzelunternehmer. So wie die Friseuse in dem Haus in Wien, in dem ich – in einer Eigentumswohnung – wohne? Die Friseuse, die neulich zu mir sagte: „Wissen Sie, wenn ich jetzt noch einmal im Lockdown zusperren muss, dann weiß ich echt nicht, wie ich das Lokal weiter betreiben soll.“ Sie klang nicht nur deprimiert und verzweifelt, man sah ihr die zermürbte Müdigkeit deutlich an. Wer also sind diese Demonstranten?
Vielleicht ist ein Kevin darunter, der für die Müllabfuhr in Wien arbeitet, einen gesicherten Job hat und sich nicht impfen lassen will, weil er glaubt, er werde von Bill Gates vergiftet. Vielleicht ist ein Josef darunter, der seit zwanzig Jahren in Ottakring ein Beisl betreibt und seit einem halben Jahr vor einem Überbrückungskredit von 20 000 Euro steht, den er jetzt nicht zurückzahlen kann, aber zurückzahlen müsste. Eine Unmöglichkeit, die ihn seelisch zerrüttet und ihn – aus Verzweiflung – auf die Straße zu den anderen Demonstranten treibt. Vielleicht ist eine Jacqueline darunter, die an von Engeln induzierte Selbstheilungskräfte glaubt und behauptet, sie kenne niemanden, der an Corona gestorben sei; eine Frau, die übrigens bei ihrer Mutter wohnt und keine Miete zahlen muss. Anders als Josef, der mit einem neuen Kredit am Hals nicht weiß, wie er seinen 15-jährigen Sohn unterstützen soll; ganz zu schweigen von seiner 82-jährigen Mutter, die er pflegen müsste; wofür er ebenso vor vier Jahren einen Kredit aufnehmen musste.
Viele haben keine Schulden und leben komfortabel
Josef, Kevin und Jacqueline gehen auf die Straße. Alle mit anderen Beweggründen. Gemeinsam aber ist ihnen, dass sie – je auf ihre Weise – verzweifelt und verängstigt sind, aber von all jenen aufs Heftigste kritisiert werden, die meinen, sie allein seien an der Krise schuld; sie allein trügen Schuld daran, dass der Virus sich weiter ausbreite. Und unter denen, die Josefs, Kevins und Jacquelines Treiben mit Abscheu verfolgen, sind gewiss Menschen, die – ganz anders als Josef – in einer Eigentumswohnung sitzen; die keine Schulden haben; die, um sich auszulüften, im eigenen Garten lustwandeln können; und die, anders als Josef, sich nicht darüber den Kopf zerbrechen müssen, wie sie die kranke Mutter, das Kind und den Kredit seelisch, geschweige denn finanziell stemmen könnten. Den Josef aber trifft Kevins und Jacquelines Schicksal: Auch er kriegt die Verachtung und die Wut jener ab, die ihn verantwortlich machen für die Verbreitung des Virus; indes Josef sich fragt: Sollte er schweigen? Sollte er denn nicht auf sein Leid, auf seine Not aufmerksam machen? Wer könnte es ihm verbieten?
Ich habe Corona gehabt
„Es gibt viele Meinungen auf dieser Welt und gut die Hälfte stammt von Menschen, die selbst nie in Not geraten sind.“ So sagt es eine Figur in Tschechows Kurzgeschichte „Ein Unglück“.
Nun möchte ich zwischendurch folgendes festhalten, um prophylaktisch die Aufwallung so manchen Lesers zu besänftigen: Ich selber habe Corona gehabt; ebenso wie mein Vater, der deshalb sogar im Spital behandelt werden musste. Es war in seinem Fall ziemlich knapp. Ich bin geimpft und habe schon Jahre vor Corona immer ein Desinfektionsfläschchen herumgeführt, neurotisch wie ich bin.
Ich lebe, wie gesagt, anders als Josef, in einer Wohnung, die mir gehört. Sollte mich das nicht die Demut lehren, Josef nicht zu verurteilen? Ihn nicht zu beschimpfen? Ihn anzuhören anstatt ihn zu beschuldigen?
Neulich habe ich die Meinung vernommen, dass in diesen Tagen der weltweiten Krise das physische Überleben vor allem anderen Vorrang habe. Die Menschen sollten sich daher, um des allgemeinen Wohls willen, beherrschen, am Riemen reißen, nicht auf die Straße gehen und sich verbarrikadieren. Gut und schön, dachte ich. Aber was genau ist denn nun das physische Überleben? Gesund zu bleiben? Unversehrt zu bleiben? Genug zu essen, ein Dach über dem Kopf zu haben? Was aber – frage ich –, wenn eben diese vermeintlichen Selbstverständlichkeiten, wie etwa in Josefs Fall, nicht mehr selbstverständlich sind? Denn Josef muss fürchten, anders als Kevin von der MA 48 und anders als die im Hotel Mama versorgte Jacqueline, dass er delogiert wird; er muss fürchten, dass sein Lokal, diese „Liebe seines Lebens“, aufgelöst wird; dass sein Sohn sich von ihm abwendet; dass seine Ex-Frau mit neuen finanziellen Forderungen kommt, die er nicht erfüllen kann …. Und in diesem Zustand der angstvollen Beklemmung hört er den Satz: „Heute bitte muss es reichen, physisch zu überleben!“ – Sollte sich Josef in seinem Zustand dabei nicht, gelinde gesagt, vor den Kopf gestoßen fühlen? Warum denn? Nun, darum: Leicht ist es, physisches Überleben zu fordern, wenn man, wie ich, von der Mutter das Mittagessen serviert bekommt und so gut wie keine Fixkosten hat, weil man in einer eigenen Wohnung lebt. Ich kann leicht nur physisch überleben. Aber was ist mit Josef …?
Wohl bezahlte Vorträge und Angst? Der Unterschied…
Die Aussage, dass physisches Überleben in diesen Tagen völlig ausreiche, schien mir, als ich sie vernommen habe, ebenso – ja, ich sage es: zynisch wie die Aussage eines berühmten Philosophen in der Zeitung, der meinte, die Krise biete eine Chance, in sich zu gehen und zur Besinnung zu kommen. Leicht gesagt von einem, der für einen einzigen Vortrag ein Drittel dessen bezahlt bekommt, was meine Wohnung vor zwölf Jahren gekostet hat. Leicht ist es zu meditieren und besonnen Kamillentee zu trinken und Musik zu hören, wenn man weiß, dass einem kein Ungemach durch Delogierung, Banken und Finanzamt droht ….
Es ist die Angst, die alle letztlich antreibt: Kevin und Jacqueline haben Angst vor einer Veränderung ihres Körpers; so haben sie’s in den letzten zwei Jahren in ihren Medien gelesen und in etlichen sensations-heischend aufbereiteten YOUTUBE-Filmchen gesehen; Josef hat Angst, obdachlos auf der Straße zu landen. Der in seinem Eigenheim Sitzende und die Demonstranten Beschimpfende wiederum hat Angst, auf der Intensivstation zu landen. Alle haben Angst. Die Angst aber ist umso größer, je abstrakter die Gefahr ist und je abstrakter die Nöte der Menschen sind. Je näher man aber Josef, Kevin und Jacqueline kennenlernt, desto eher wird man sie verstehen, ihnen verzeihen und ihnen helfen wollen, desto eher wird man sie ernst nehmen.
Aber die drei Demonstranten fühlen sich nicht ernst genommen. Sie fühlen sich beschimpft, beschuldigt und, auf je ihre Weise, ihrer Lebensgrundlagen beraubt.
Familie – Liebe – Freunde - Arbeit
„Das ganze Elend“, sagt Erich Fromm, „das viele Menschen heute spüren, hat seinen Grund nicht darin, dass diese Menschen so krank sind, sondern (…) darin, dass sie von dem abgetrennt sind, was das Leben (…) belebt.“ Und? Was belebt das Leben? Die einfache Antwort: Familie. Liebe. Freunde. Arbeit. Wie Sigmund Freud feststellte: Der Mensch ist dann erst als gesund zu bezeichnen, wenn es ihm gelungen ist, zu lieben und zu arbeiten.
Menschen nun, die sich der Angst hingeben, haben, wie Erich Fromm ausführt, „die Fähigkeit eingebüßt, innerlich angerührt zu werden von der Not eines anderen Menschen.“ Was aber ist diese Not? Es ist die Angst vor der Impfung. Es ist die Angst vor dem Verlust der eigenen Integrität. Es ist die Angst vor Delogierung, vor dem Finanzamt, vor der Bank, vor der mehr Geld einklagenden Ex-Frau, vor dem ökonomischen und seelischen Ruin. Es ist – vereinfacht gesagt – die Angst des kleinen Mannes vor dem Großkonzern. Vor jener unbekannten Macht, die sein Leben zunichtemacht, die zwanzig Jahre liebevoller Arbeit im Beisl ums Eck in Ottakring. Ein Mensch, der sich dergestalt in Not fühlt und keinen Ausweg mehr weiß, empfindet sein Leben und sein Dasein als sinnlos.
Viktor Frankl sagt dazu: „(…) überwältigt vom Sinnlosigkeitsgefühl, (…) stürzt er sich in das Abenteuer, die Sinnleere (…) mit Absurdität aufzufüllen.“ Voilà: So wie vor fünfhundert Jahren die Menschen an die Macht des Teufels glaubten, so glauben sie heute an in ihre Venen induzierte Rasierklingen und an Echsenmenschen, die die Weltherrschaft an sich reißen wollen. Das Seltsame an diesen durchaus absurden Fantasien: dass ihnen, wie jeder Mär und Sage, ein Kern Wahrheit innewohnt. Ist es denn etwa nicht so, dass es das Interesse der ökonomisch gewichtigen Konzerne wäre, die kleinen Unternehmer auszuhöhlen?
Sinnvoll sein – das will der Mensch
Der Mensch ist auch in Zeiten der Not und der Krise nicht nur auf der Suche nach dem Heil seines Körpers, sondern vielmehr noch ist er auf der Suche nach einem seelischen Sinn. Die Ansicht, nun genüge es, bloß physisch zu überleben, verkennt aufs Äußerste das Wesen des Menschen: dass jeder Mensch leidend eingehen muss, der des Sinnes seines Lebens verlustig geht. Oder, wie Frankl ausführt: „Er [der Mensch] will nicht da sein (…) um jeden Preis, sondern das, was er wirklich will, ist: sinnvoll da sein.“
Der in seinem Eigenheim sicher und behaglich Sitzende hat es leicht. Leichter als Josef, der Angst haben muss, übermorgen auf der Straße zu landen. Der in seinem Eigenheim Sitzende kann es sich leisten, Angst zu haben. So wie ich es mir letzten September leisten konnte, nicht ins Flugzeug zu steigen. Ich musste zu keinem Bewerbungsgespräch fliegen; auf mich wartete kein Job, kein Vortrag, kein Honorar, nichts. Ich konnte auf die 400 Euro pfeifen, meiner Atembeklemmung und meinem angstvollen Zittern nachgeben und heimfahren. In meine sicheren vier Wände. Und Josef?
Menschen, denen es – ökonomisch – gut geht, sollten von Josef, Kevin und Jacqueline nicht bloß Solidarität erwarten. Wieso sollten die drei genannten Leute sich der Angst derer beugen, denen es in vieler Hinsicht besser geht? Warum sollte nicht eher der, dem es gut geht, die Angst dieser drei Gebeutelten zu verstehen versuchen? Konfuzius sagt: „Der Weise fängt immer bei sich selber an.“ Was heißt: Es reicht nicht, die Fehler nur beim anderen zu sehen. Wer – wie ich es leider getan habe in meiner bodenlosen Feigheit und übertriebenen Angst – nicht in den Flieger steigt, aber dabei zugleich erwartet, dass Josef, Kevin und Jacqueline ihren Beitrag leisten, der macht es sich ein bisschen zu leicht.
Erst das Fressen – dann die Moral?
Hat man – frage ich – das Recht, es sich leicht zu machen? Während andere nicht nur vor dem Virus Angst haben, sondern davor, morgen nichts mehr zu essen zu haben? Wie kann man physisches Überleben einfordern, wenn der, dem man es abverlangt, kein Geld hat? So wie der große Romancier Honoré de Balzac wusste: Geld. Es geht immer ums Geld. Auch – so paradox es auch klingen mag – beim Coronavirus. Hier wiederhole ich mich: Ich hatte ihn selber. Mein Vater lag seinetwegen im Krankenhaus. Der Virus existiert. Und wie es scheint, kann er auch durchaus unerfreuliche Wirkung entfalten. Und doch betone ich mit aller Bestimmtheit: Es geht letztlich im Konkreten des menschlichen Alltags und Überlebens ums Geld. Oder lassen wir zum Schluss Brecht das berühmte Wort, pointierter: „Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral.“