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Analyse zu Pandemien von Univ.-Prof. DDr. Christian Schubert

Das Böse in der Welt geht fast immer von Unwissenheit aus, und der gute Wille kann ebenso viel Schaden anrichten wie die Bosheit, wenn er nicht aufgeklärt ist

(Albert Camus, Die Pest)

Krankheiten, ob aktuell vorhanden, bereits vergangen oder noch bevorstehend, stehen ohne Zweifel in starker Wechselwirkung mit der Psyche des Menschen. Besonders sind es die großen Pandemien der Menschheitsgeschichte, die hier zu nennen sind. Im Folgenden soll ein kurzer Überblick dazu gegeben werden, was Pandemien sind und wie die Psyche mit Pandemien in Verbindung steht. Dabei wird eine biopsychosoziale (Engel 1980), also systemische Perspektive eingenommen, die das komplexe Miteinander von Erreger und Wirt auf biologischer, psychologischer und sozialer Ebene verdeutlichen soll.

1. Pandemie biopsychosozial

Üblicherweise versteht man unter einer Pandemie die Länder und Kontinent übergreifende Ausbreitung einer Krankheit, im engeren Sinn eine durch ein Virus oder ein Bakterium ausgelöste Infektionskrankheit beim Menschen (Madhav 2017). Zu den größten und verheerendsten Pandemien der Menschheitsgeschichte gehören die Pocken (Orthopoxvirus variolae, 165–180, römisches Reich, etwa 10 Mio. Tote), die Pest (Yersinia pestis-Bakterium, 1346–1353, „alte Welt“, 25 Mio. Tote), die Spanische Grippe (Influenzavirus, Subtyp A/H1N1, 1918–1920, weltweit, 50 Mio. Tote) und HIV/AIDS (Humanes Immundefizienz-Virus, seit 1980, weltweit, 36 Mio. Tote) (Spitzer 2020).

„Pandemie“ ist ein klassisch biomedizinischer Fachbegriff der Mikrobiologie und Epidemiologie. Er betrifft primär den stofflich-biologischen Aspekt einer Infektion (z.B. Virus-RNA, Immunsystem des Wirts) und beschränkt sich rein auf das enge ätiologische Narrativ des Normalen und des Pathologischen (Caduff 2010). In den letzten Jahrzehnten hat die Medizin jedoch begonnen, sich zunehmend von solch reduktionistisch-mechanistischen Kriterien zu lösen und in Richtung Ganzheitlichkeit zu erweitern.

Ein neues biopsychosoziales Medizinparadigma (Engel 1980) geht davon aus, dass beim Menschen Stofflich-Biologisches nur im Zusammenhang mit höher komplexen psychischen und sozialen Entitäten existiert und somit auch nicht getrennt zu erforschen und verstehen ist. Biopsychosozial gesehen ist daher auch eine Pandemie nie nur auf den stofflich-biologischen Bereich (also das Virus oder Bakterium) beschränkt. Es sind auch hier wie bei jeder anderen Erkrankung immer komplexere und damit wirkmächtigere Faktoren mitzudenken, die den Menschen in seiner Gesamtheit betreffen, seine Psyche, seine sozialen Beziehungen, seine Spiritualität, die Gesellschaft und Kultur, bis hin zur Biosphäre, in der der Mensch existiert. Das gilt für das Entstehen von Pandemien genauso wie für deren Ausbreitung und Verschwinden.

2. Entstehung und Ausbreitung von Pandemien

Bereits bei der Verursachung von Pandemien ist der Einfluss des Menschen unübersehbar. Von den 1400 bekannten humanen Pathogenen haben nahezu 60% – darunter auch jene Erreger, die den oben genannten großen Pandemien der Menschheit zugrunde liegen – ihren Ursprung in der Tierwelt (Zoonosen) (Bengis et al. 2004). Tiere wiederum stehen zivilisationsbedingt in enger Verbindung zum Menschen. Es gibt eine Reihe von Hinweisen, dass die Infektionsübertragung vom Tier auf den Menschen durch verschiedene mit der menschlichen Entwicklung und damit auch dem Erleben und Verhalten des Menschen verbundene Elemente begünstigt werden. Dies betrifft vor allem Veränderungen in lokalen Ökosystemen, die die Balance zwischen Pathogen und Wirt stören, die Zunahme der Weltbevölkerung mit städtischer Konzentration sowie die Intensivierung der Wildtierzucht und die übermäßige Viehverwertungsindustrie (Bengis et al. 2004, Madhav 2017). Demgegenüber stehen einige ebenso mit der menschlichen Entwicklung assoziierte Fortschritte, die die Wahrscheinlichkeit von Infektionen tierischen Ursprungs verringern: Gestiegene Lebensmittelsicherheit, Hygienebedingungen, Wasseraufbereitung etc. (Madhav 2017).

2.1. Der biopsychosoziale Erreger

Damit ein Erreger zu einer Infektion und Erkrankung beim Menschen führen und es zu einer pandemischen Ausbreitung kommen kann, bedarf es einiger Voraussetzungen, die sowohl den Erreger als auch den Wirt betreffen. Zudem befinden sich Erreger und Wirt in einer unauflösbaren koevolutionären Beziehung und beeinflussen sich damit ständig gegenseitig (Shi et al. 2018).

Was die stofflich-biologische Seite des Erregers betrifft, so stehen Erregerpathogenität und -virulenz in direktem Zusammenhang mit dem Risiko einer Infektion und Erkrankung des Wirts. Die stofflich-biologischen Übertragungswege der großen verheerenden Pandemien der Menschheit reichen von Tröpfchen- und Inhalationsinfektionen (Pocken, Lungenpest, Spanische Grippe) über den direkten Kontakt mit Körperflüssigkeiten (HIV) zu Kontakten mit Tieren über Stiche von Flöhen (Vektoren), die die Beulenpest vom Mäuse- und Rattenreservoir auf den Menschen übertragen (Wikipedia). Diverse Transportwege (z.B. Flugzeug, Schiff) von infizierten Menschen und Wirtschaftsgütern ermöglichen besonders in modernen Zeiten die Überwindung von geografischen Grenzen und die potenziell weltweite Verbreitung der Erreger (Madhav 2017).

Biopsychosozial gesehen, besteht der Erreger aber nicht nur aus seiner stofflich-biologischen Komponente (z.B. Virus-Nukleinsäure, bakterielles Nukleoid) und wird über weitaus mehr Wege als nur den rein mechanischen Transportwegen weiterverbreitet. Die biopsychosoziale Modellkonzeption (Engel 1980) lässt nämlich annehmen, dass über die gesamte biopsychosoziale Schichtenhierarchie hinweg selbstähnliche Manifestationen zu ein und demselben Element bzw. System existieren (Schubert 2017). So wie „Berührung“ zwischen zwei oder mehreren Menschen nie nur auf die physische Berührung beschränkt bleibt, sondern immer auch das emotionale „sich Berührt-Fühlen“ und das soziale „jemanden Berühren“ bzw. „von jemandem Berührt-Werden“ impliziert, so sollte auch ein Erreger oder eine Infektion nie nur unter stofflich-biologischen Aspekten zu kennzeichnen und zu bewerten sein. Denn sobald erste Infektionsfälle und -verläufe bekannt geworden sind und über interpersonale Kommunikation und/oder diverse Medien (u.a. Zeitungen, Fernsehen, Internet) berichtet wurden, erweitert sich quasi der Erreger vom rein stofflich-biologischen zum psychologischen und psychosozialen Informationsträger (Symbol) mit einem dann auch entsprechend erweiterten Infektions- und/oder Erkrankungsrisiko. Strong (1990) hat hierfür den Begriff der „epidemic psychology“ geprägt. Die mit der menschlichen Sprache und auch nonverbalen Mitteln (z.B. Tragen einer Atemschutzmaske) verbundene symbolische Erweiterung des Erregers dürfte ganzheitlich gesehen eine größere Gefahr für die Gesundheit der Bevölkerung (z.B. durch Massenhysterie, ökonomische Einbußen) darstellen als die rein biologische Pathogenität und Virulenz des Erregers.

 2.2. Die biopsychosoziale Reaktion des Wirts auf einen Erreger

Da der Wirt in einem biologischen Gleichgewicht mit der Virulenz des Erregers steht (Shi et al., 2018), hängt das tatsächliche Infektions- und Erkrankungsrisiko auch vom Immunsystem des menschlichen Wirts ab. Dazu gehören stofflich-biologisch gesehen die Unversehrtheit von Haut und Schleimhäuten sowie Elemente des angeborenen unspezifischen (z.B. natürliche Killerzellen) und erworbenen spezifischen Immunsystems (z.B. B- und T-Lymphozyten). Bei hoher Virulenz des Erregers bedarf es einer starken körpereigenen Abwehr, um den Erreger abzuwehren. Hingegen bei verminderter körpereigener Abwehr führen Erreger schneller zu fatalen Entwicklungen einer Infektion.

Aus biopsychosozialer Perspektive spielt die Psyche des Menschen beim Infektions- und Erkrankungsrisiko eine zentrale Rolle. Ein psychologischer Aspekt, der über das Infektions-/Erkrankungsrisiko und damit die Entstehung einer Pandemie mitentscheidet, ist das sogenannte Verhaltensimmunsystem („behavioral immune system“). Das Konzept des Verhaltensimmunsystems geht davon aus, dass Menschen bei der Abwehr von Erregern nicht nur dann immunologisch aktiv sind, wenn ein unmittelbarer körperlicher Kontakt mit der Mikrobe stattfindet, also stofflich-biologisch, sondern auch in nicht-stofflicher psychosozialer Form, indem eine Person eine infizierte Person als infiziert erkennt (z.B. weil sie niest, krank aussieht), sich vor ihr ekelt oder Angst empfindet und Abstand nimmt, sich also mit psychosozialen Mitteln gegenüber der Gefahr, sich anzustecken, schützt. Dabei greifen biologische und psychologisch/psychosoziale Abwehrmechanismen untrennbar ineinander. Betrachtet man beispielweise ein Foto mit einer sichtlich erkrankten Person, steigt beim Betrachter die Interleukin (IL)-6-Konzentration an (Schubert 2017).

Dass eine Person den Anschein einer Infektion bzw. Erkrankung macht, also anderen signalisiert, auf Abstand zu gehen, kann immunoneuropsychologisch begründet werden. Im Fall einer Infektion überqueren pro-inflammatorische Zytokine (z.B. IL-1β, IL-6, TNF-α) die Blut-Hirn-Schranke und triggern im Gehirn eine Reihe von neurovegetativen (u.a. Erschöpfung, Appetitlosigkeit) und -psychiatrischen (u.a. Gereiztheit, sozialer Rückzug) Symptomen („sickness behavior“). Dies dient dazu, Erleben und Verhalten des Infizierten so zu regulieren, dass einerseits Energie für den Abwehrprozess eingespart werden kann und andererseits dem Gegenüber verbal („ich fühle mich krank“) und nonverbal (jemand sieht krank aus) signalisiert werden kann, dass man infiziert ist (Schubert 2017).

Schließlich dürfte das Verhaltensimmunsystem des Menschen auch soziale Einstellungen und Interaktionen von Menschen betreffen, z.B. in Form von Ethnozentrismus und negativer Einstellung gegenüber Immigranten und anderen Fremden. Studien zeigten, dass Menschen, die sich von Krankheitserregern stärker bedroht fühlen, mehr dazu neigen, Fremdgruppen zu meiden oder zu stigmatisieren, da sie davon ausgehen, dass diese etwa aufgrund von mangelnder Hygiene, Bildung, Selbstkontrolle und/oder fremd anmutenden Kulturpraktiken zu den Verursachern oder Verbreitern von Infektionskrankheiten gehören (Taylor 2020).

2.3. Biopsychosoziale Wechselwirkungen zwischen Erreger und Wirt

Die Psychoneuroimmunologie (PNI) konnte wiederholt belegen, dass negative wie positive psychologische Faktoren mit der biologischen Erregerabwehr und dem Erkrankungsrisiko des Menschen interferieren. Beispielweise konnte gezeigt werden, dass die Wahrscheinlichkeit, sich nach Gabe von Nasentropfen, die eines von 5 Viren (Rhinovirus-Typen 2, 9, 14; Syncytialvirus; Coronavirus Typ 229E) enthielten, zu infizieren und zu erkranken, mit dem vorab berichteten chronischen Stress der betroffenen Personen linear zunahm. Weiterhin wurde nachgewiesen, dass das Ausmaß der unterschiedlichen Personen(gruppen), mit denen man in den letzten 2 Wochen Kontakt hatte (soziale Diversität), das Risiko deutlich verringerte, an einer Erkältung zu erkranken (Cohen 2020). Diese und viele weitere Ergebnisse der PNI belegen, dass chronisch gestresste und einsame Menschen – neben Kindern, älteren und immunologisch vorerkrankten Menschen – zu einer weiteren Risikogruppe zählen dürften, sich zu infizieren und zu erkranken und damit zur pandemischen Verbreitung der Infektionserkrankung beizutragen.

Solche Erkenntnisse stützen die Annahme, dass nicht die Pathogenität und Virulenz des Erregers alleine, sondern eine damit verbundene entweder a priori vorhandene (z.B. Kriegssituation bei der Spanischen Grippe) oder erst im Rahmen einer Pandemie entstandene (z.B. durch Stigmatisierung, Arbeitslosigkeit) psychosoziale Belastung von Menschen über die Verminderung von abwehrrelevanten Immunfaktoren zur weiteren Ausbreitung und Aufrechterhaltung einer Pandemie beiträgt.

3. Eindämmung von Pandemien

Strong (1990) geht in seinem Modell zur „epidemic psychology“ davon aus, dass den Menschen bei Krankheitsausbrüchen unbekannter Herkunft neben der Furcht vor dem Erreger und dem Versuch, eine tödliche Infektionswelle zu erklären und dabei Minderheiten zu verdächtigen und zu stigmatisieren, noch ein dritter Faktor quasi psychologisch infiziert: Die Suche nach Strategien, die Infektionswelle zum Verschwinden zu bringen. Auch in Hinblick auf die Eindämmung einer Pandemie gilt, dass Maßnahmen biopsychosozial zu sehen sind und sowohl den Erreger als auch den Wirt bzw. deren Wechselwirkung betreffen können.

3.1. Biopsychosoziale Schwächung des Erregers

Die Übertragung des Erregers wird stofflich-biologisch gesehen über die räumliche Distanzierung zum Erreger (z.B. Schulschließung, Quarantäne, „social distancing“), über die Desinfektion der Hände, das Tragen von Schutzmasken und durch die Kontrolle und Überwachung der Bevölkerung, z.B. mit Hilfe von Tracking-Apps, verringert. Dabei soll dem Erreger auf mechanische Weise der Wirt und damit das Instrumentarium und der Ort der Vermehrung entzogen werden. Auch der Versuch, die Infektiosität eines Erregers z.B. durch die Gabe von Medikamenten zu verringern (Madhav 2017), folgt dem biomechanischen Narrativ des Abtötens und damit Ausrottens des Erregers (Eradikation).

Aus psychosozialer Perspektive ist eine Schwächung des Erreger-Einflusses bei einer Pandemie mit angemessener Risikokommunikation zu erreichen. Diese sollte neben bestimmten unverzichtbaren Informationsinhalten (z.B. Typ und Ausbreitungsart des Erregers, Möglichkeiten des Infektionsschutzes, medizinische Anlaufstellen) auch die angemessene Art der Informationsgabe (z.B. Rücksichtnahme auf bereits existierende Erfahrungen, Überzeugungen und Ängste der Bevölkerung in Hinblick auf Pandemien) beinhalten (Madhav 2017). Rechtzeitige und umfassende Aufklärung und Informationen erhöhen die Bereitschaft der Bevölkerung, ihr Verhalten auf die neue Situation einzustellen und verringern die Notwendigkeit staatlicher Restriktionen (Thießen 2015).

3.2. Biopsychosoziale Stärkung des Wirts

Wesentlich bei der Eindämmung einer Pandemie ist weiterhin die Stärkung der Widerstandsfähigkeit des Wirts. Stofflich-biologisch gesehen kann dies durch eine Impfung erfolgen, die darauf abzielt, durch einen Eingriff in die Funktion des erworbenen Immunsystems des Wirts die spezifische Antikörperreaktion gegen ein Virus zu aktivieren (Madhav 2017).

Psychosozial gesehen, sollten bei Pandemien Ängste und Stigmatisierungen in der Bevölkerung vermindert und die Resilienz gestärkt werden. Eine Resilienzstärkung kann über die Förderung des sozialen Zusammenhalts und der Selbstfürsorge sowie die Gestaltung von Tagesstrukturen erfolgen. Weiterhin gehört zur Stärkung der Resilienz des Wirts die gesunde Ernährung, körperliche Bewegung und andere mit dem Lebensstil assoziierte Aspekte (Vinkers et al. 2020). All dies fördert nicht nur die psychologische, sondern auch die körperliche Widerstandsfähigkeit. Darüber hinaus zeigt die PNI-Forschung, dass durch diverse Formen der psychologischen Intervention (z.B. Meditation, Hypnose) sowohl psychologische Positivfaktoren (z.B. positiver Affekt) als auch der Immunschutz gesteigert werden können (Schubert 2017).

3.3. Biopsychosoziale Wechselwirkungen in der Pandemie-Eindämmung

In der Eindämmung von Pandemien dürften biopsychosoziale Wechselwirkungen existieren und komplexere psychosoziale Maßnahmen rein biologischen in ihrer Wirkung überlegen sein. Es lässt sich beispielsweise annehmen, dass durch eine angemessene Risikokommunikation sowohl über die dadurch resultierenden verbesserten psychosozialen Abwehrmaßnahmen (z.B. Schutz immunsupprimierter Personen) als auch über die durch die Informationsgabe selbst zu erzielende Angstreduktion und Resilienzsteigerung, einschließlich der damit einhergehenden verbesserten Immunabwehr in der Bevölkerung, das Ansteckungs- und Ausbreitungsrisiko einer Pandemie effizient vermindert wird (Vinkers et al. 2020). Ein Angstschüren durch Mediziner, Staat und Medien dürfte demgegenüber das Infektions- und Erkrankungspotenzial der Bevölkerung erhöhen.

4. Einfluss von Pandemien auf die Menschheitsgeschichte

Die in den vorigen Abschnitten dargelegten Erkenntnisse zu den biopsychosozialen Verbindungen zwischen Erreger und Wirt stellen die Grundlage für den nachhaltigen Einfluss von Pandemien auf den Menschen, die Gesellschaft, die Menschheit an sich und damit auch die zukünftige Auftretenswahrscheinlichkeit von Pandemien dar.

Seuchen, so der Medizinhistoriker Thießen (2015), sind die sozialsten aller Krankheiten, sie treffen ganze Gesellschaften, schüren kollektive Ängste und verschärfen soziale Spannungen (Tabelle). Sie wirken wie Katalysatoren für gesellschaftliche Tendenzen (Strong 1990) – negative wie positive, wie man am Beispiel HIV sehen kann. Der HIV-Ausbruch in den 1980er Jahren hat einerseits zu einer noch stärkeren Diskriminierung von Homosexuellen geführt, d.h. die typischerweise mit einer Pandemie einhergehende Spaltung zwischen „uns und den anderen“ – den „others“, den Sündenböcken, hat ein zuvor bestehendes, angstbesetztes Stereotyp der Gesellschaft rund um Homosexuelle, aber auch Heroinsüchtige und Prostituierte, noch mehr angeheizt. Andererseits kam es in Deutschland zur politischen Instrumentalisierung von HIV in die positive Richtung – rigide Isolations- und Quarantänemaßnahmen wurden als Bedrohung für die freiheitliche Lebensform gesehen und der Umgang mit AIDS sollte von nun an einen neuen Werterahmen für politisches Handeln setzen. Dies trieb in weiterer Folge die in den 1960er Jahren begonnene gesellschaftliche und sexuelle Liberalisierung voran (Thießen 2015).

Seuchen und Herrschende stehen seit jeher in einer engen Beziehung. Foucault bezeichnete die Pest gar als einen „Traum“ der Regierenden und sah die Pandemie dabei als eine Art Geburtshelfer moderner Staaten an, die ihre Regierungstechnik im Kampf mit der Pandemie erproben und ihre staatliche Leistungs- und Wettbewerbsfähigkeit im Zusammenhang mit der Gesundheit der Bevölkerung unter Beweis stellen konnten (Thießen 2015). Die durch einzelne Staaten und staatenübergreifende Einrichtungen im Rahmen von Pandemien vorangebrachten sozialen und medizinischen Leistungen lassen sich gut am Beispiel der erfolgreichen Pockenbekämpfung darlegen. Ende des 18. Jahrhunderts breiteten sich die Pocken wegen der Zunahme des Reiseverkehrs rasant aus. Als 1800 ein erster Impfstoff gegen die Pocken vorhanden war, führte Bayern 1807 als erster Staat weltweit die Impfpflicht ein und überführte die Taufregister in den Kirchen in Impflisten, die damit zu Vorläufern der Einwohnermelderegister wurden. Jedoch erst die Überwindung nationaler Wettbewerbs- und Abschottungstendenzen mit einem von der WHO lancierten globalen Impfprogramm ermöglichte es im 20. Jahrhundert eine weltweite Kontrolle der Pocken zu erreichen (Fiedler 2020).

Pandemien (Fiedler 2020)

  • Sind Katalysator für gesellschaftliche Tendenzen.
  • Ermöglichen dem Staat, seinen Einfluss auszudehnen.
  • Werden politisch instrumentalisiert.
  • Verstärken den nationalen Wettbewerb und die Abschottung. 
  • Fördern soziale und medizinische Verbesserungen.
  • Polarisieren die Gesellschaft. 
  • Sind Nährboden für Verschwörungstheorien.

5. Fazit

Was haben Pocken, Pest, Spanische Grippe, HIV und – aktuell – COVID-19 gemeinsam? Das Jahrhunderte dauernde ideologische Festhalten an der maschinenparadigmatischen Ausrichtung in der Medizin und die damit verbundene eindimensionale und zeitlich begrenzte Sicht auf das Problem Pandemie. Im Umgang mit Pandemien rein auf den stofflich-biologischen Aspekt des Erregers zu blicken und dabei Maßnahmen zu priorisieren, die auf das Ausmerzen des Erregers und die Isolation des Wirts abzielen, müssen scheitern, weil sie der Komplexität des Problems nicht entsprechen können. Ein Paradigmenwechsel in der Medizin würde demgegenüber die komplexe Wechselwirkung zwischen Erreger, Mensch und Umwelt in den Vordergrund von Diagnose, Behandlung und Prävention von Pandemien stellen. Er würde den Menschen mehr in die Verantwortung nehmen und seine angeborenen und erworbenen, immunologischen Schutz- und Abwehrfähigkeiten, die über das Biologische hinaus in die psychologische und soziale, ja kulturelle Sphäre reichen, in den Vordergrund stellen. Vielleicht würde das dann das Ende von Pandemien bedeuten, wie wir sie heute kennen.

Referenzliste

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Bild: Unsplash / Serj Sakharovskiy

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