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Wie viele Intensivbetten rechtfertigen einen Lockdown?

Warum man eine Pandemie nicht mit Zahlen erklären kann

Es ist ein Schock für Christina. Die profil-Journalistin ist an diesem Tag um 5:45 aufgestanden. Sie hat die Nacht nicht in ihrer Wiener Wohnung verbracht, sondern bei ihrer Mutter im Salzkammergut. Sie muss ihre Mutter mit dem Auto nach Wien bringen, in die Universitätsklinik AKH. In ganz Österreich kann ihr nur ein Arzt helfen. Es ist eine komplizierte Operation wegen eines Tumors am Rippenfell. Spezialisten und Ausrüstung für so einen Eingriff gibt es nur am AKH. Wien, Niederösterreich und das Burgenland sind wegen des Coronavirus, der auf den Intensivstationen wütet, im Lockdown. Die Angst, wegen der Überfüllung wieder nach Hause geschickt zu werden, begleitet Mutter und Tochter durch die Nacht und auf der Fahrt nach Wien. Der behandelnde Chirurg hat sie zuvor gewarnt, dass eine Verschiebung kurzfristig passieren könnte. Alles geht gut. Die Mutter wird aufgenommen. Die Tochter fährt in ihre Wohnung, um sich auszuruhen. Gerade als sie ihre Kontaktlinsen herausnehmen will, kommt der Anruf. „Wir können jetzt nicht operieren, weil es keine Intensivbetten gibt und es ist leider noch kein Ersatztermin absehbar,“ dröhnt es durch das Herzklopfen an Christinas Ohr. Sie nimmt ihre ungeöffnete Reisetasche, läuft die Stufen hinunter und holt ihre Mutter wieder vom AKH ab. Während sie vor der Tür auf sie wartet, setzt sie wütend einen Tweet ab:

Triage in Wien ist Fakt: habe heute morgen meine Mutter wg dringender lebenswichtiger TumorOP ins AKH gebracht. Jetzt kam der Anruf, ich soll sie wieder abholen: OP nicht möglich, weil keine Intensivbetten. Verantwortung anyone?

Der Tweet verbreitet sich rasant, viele Medien berichten über den Fall. Sie bekommt Unterstützung, auch gehässige Kommentare von Menschen auf Twitter, die die Krankengeschichte ihrer Mutter nicht kennen. Christina hat weder Zeit noch Nerven, sich damit auseinander zu setzen. Es folgen zwei Tage banges Warten, dann aufatmen. Ihre Mutter wird am Sonntag doch aufgenommen.

Was war hier passiert und hätte es nicht passieren dürfen oder müssen? „Der behandelnde Arzt konnte offenbar verantworten, dass die OP verschoben werden kann. Sie musste nicht heute passieren. Es ist nachvollziehbar, dass die Angehörige geschockt ist, aber es ist natürlich nicht so, wie die Medien das jetzt darstellen, dass die Dame nun zum Sterben verurteilt ist. Schlaganfallpatienten, Herzattacken oder ähnliches werden nach wie vor ohne Probleme versorgt,“ erklärt Markus Pederiva, Sprecher des Wiener Gesundheitsverbundes, der alle öffentlichen Wiener Spitäler verwaltet. Diese Einschätzung kann Christina nicht nachvollziehen und empfindet sie als zynisch. Der Chirurg habe händeringend versucht, einen Platz zu finden, weil der Zustand der Mutter sich täglich verschlechterte. Fakt ist: Er hat ihn gefunden und zwar relativ schnell. Für die Betroffenen ist das mehr als relativ, weil in Angst um das Leben keine normalen Zeitkategorien gelten können. Der erste Anruf, bei dem es hieß, es sei noch kein Ersatztermin absehbar, ließ das Schlimmste vermuten.

Fakt ist: Wir leben in einer Zeit in der die Nerven bei allen blank liegen. Corona macht Angst, die Bevölkerung ist gespalten im Streit um die Angemessenheit von Maßnahmen, Impfungen und Masken. Die Menschen sind psychisch überlastet und überfordert. Deswegen muss man die Tatsachen im Blick behalten. Das Nachrichtenmagazin „profil“ schildert das Martyrium von seiner Mitarbeiterin und ihrer Mutter. Es leitet den Artikel mit dem Satz ein: „profil-Kollegin führt vor Augen, was es heißt, wenn Spitäler sagen: Wegen Überfüllung geschlossen.“ Die Gratiszeitung „Heute“ titelt mit: „AKH sagt Tumor-OP ab“. Das AKH hat die OP von Christina Mutter nie abgesagt, sondern verschoben. Kein Spital in Wien hat jemals verkündet: „Wegen Überfüllung geschlossen.“ Medien neigen dazu, Panik zu schüren. Das ist Verkaufsstrategie und die Corona-Krise eignet sich besonders gut dazu. Wenn man sich genauer ansieht, wie Intensivstationen funktionieren und sich dazu die Situation zur Intensivbettenauslastung in Wien ansieht, relativiert sich die Lage.

Intensivstationen sind die teuersten Posten eines Krankenhauses. Die Geräte und das spezialisierte Personal müssen optimal genutzt werden, sonst rechnet sich der Betrieb nicht. Deswegen müssen Intensivstationen auch ohne Corona immer zu mindestens 80 Prozent ausgelastet sein. Intensivmediziner Thomas Staudinger vom AKH berichtet auf Anfrage, dass die Intensivstationen im Haus in Normalzeiten ohne Corona sogar zu 95 Prozent ausgelastet seien. Eine Intensivstation ist de facto immer voll. Wenn es in der Zeit vor Corona Operationen gab, die danach eine intensivmedizinische Betreuung brauchen, dann müssen die Intensivärzte immer herumschieben. Je nach Dringlichkeit des Eingriffes kann ein Arzt eine geplante OP schon einmal um ein paar Tage später als geplant ansetzen. „Intensivbetten kann man nie zu 100 Prozent planen,“ erklärt Intensivmediziner Staudinger. Insofern hätte der Fall von Christinas Mutter auch unter normalen Umständen passieren können, erklärt er. Die Lage jetzt mit Corona sei dennoch angespannter als sonst. „Unsere Chirurgen planen jeden Tag je nach verfügbarer Kapazität der Betten. Wir sind eigentlich nur mehr am herumschachteln. Wir haben viel weniger Kapazitäten und Betten zur Verfügung. Hatten wir vor Corona noch circa achtzig Betten für planbare OPs, sind es jetzt nur um die zwanzig,“ so Staudinger. Wartelisten würden abgearbeitet. Es ist also eng, aber von „geschlossenen Spitälern“ oder von „abgesagten OPs“ kann keine Rede sein. Notfälle werden versorgt und notwenige Operationen, so schnell wie es die derzeitige Situation zulässt, abgearbeitet.

Was ist ein Intensivbett? Was ist ein Covid-Kranker?

Eines der Probleme in der Pandemie ist die Datenlage. Es gibt keine eindeutigen Zahlen über die Anzahl der Intensivbetten und es gibt keine einheitliche Definition darüber, was unter einem Corona-Intensivpatienten zu verstehen ist. Die Anzahl der Intensivbetten fällt je nach Quelle sehr unterschiedlich aus.

In Wien behandeln nur die öffentlichen Spitäler des Wiener Gesundheitsverbundes (WIGEV) und die Ordensspitäler, die teils privat und teils öffentlich organisiert und finanziert sind, Corona-Patienten. In einem Factsheet des Gesundheitsministeriums vom 21.1.2021 wird die Gesamtkapazität der Intensivbetten für Wien mit 478 angegeben. Laut Gesundheitsministerium heißt hier Gesamtkapazität Intensivbetten für Corona-Patienten und solche für Patienten, die andere Erkrankungen haben. Dazu wird angeführt, dass 183 Intensivbetten zusätzlich für Covid genutzt werden können. Laut dem Gesundheitsministerium sind dies „nicht unbedingt ‚neue‘ zusätzliche Betten, sondern vor allem jene Bettenkapazitäten, die durch Verringerung von elektiven Eingriffen freigemacht werden.“ Elektive Eingriffe sind notwendige, aber nicht akute Operationen. Aus dem Factsheet geht nicht hervor, welche Spitäler mit einberechnet wurden, denn Intensivbetten gibt es auch in Privatspitälern.

Am Corona-Dashboard der AGES (Agentur für Ernährungssicherheit), die regelmäßig Daten über die Hospitalisierungen publiziert, sieht man, dass sich in allen Bundesländern die Bettenanzahl für normale Corona-Patienten und für jene, die ein Intensivbett brauchen, über die Monate immer wieder verändert hat. Corona-Patienten sind keine fixe Größe. Die einen müssen länger auf einer Intensivstation verbringen, die anderen kürzer. Auch die Nicht-Corona-Patienten müssen versorgt werden und brauchen zum Teil Intensivbetreuung. Jedes Bundesland plant das individuell. Deswegen hat das Gesundheitsministerium ein Kapazitätserhebungstool eingerichtet, mit dem die Bundesländer ihre Kapazitäten täglich melden. Wien nutzt dieses Tool nicht. Die Daten für Wien werden vom Krisenstab, der täglich im Innenministerium tagt, gemeldet.

Am 28. März 2021 wurde das Meldesystem der Stadt Wien an die AGES an den so genannten „Wiener Eskalationsplan“ angepasst. Seitdem werden konstant 777 Normalbetten für Corona-Patienten und 364 Intensivbetten für Corona-Patienten ausgewiesen. Der Wiener Eskalationsplan wird vom WIGEV erstellt. In einem Stufenplan wird vorgegeben, wie die öffentlichen Spitäler mit Corona-Patienten verfahren sollen. „Aufgrund der Anzahl der Neuinfektionen planen wir, mit wie viel Intensivpatienten wir rechnen müssen. Wenn eine bestimmte Stufe ausgerufen ist, weiß jede Abteilung, wie viele normale OPs sie machen kann oder eben nicht machen kann,“ erklärt Markus Pederiva, Sprecher des WIGEV. Im April-Lockdown war es die Stufe acht, die 310 Betten für Covid-Patienten vorsieht, davon rund 100 Betten mit Hochflusssauerstoffgeräten. Das sind laut Pederiva keine Intensivbetten mit den entsprechenden Geräten, sondern die Patienten sind an Sauerstoffflaschen angeschlossen. Oft reicht das für die Behandlung von Corona-Patienten. „Aber wir rechnen das zu den Intensivkapazitäten dazu, weil solche Betten für die Überwachung des Patienten auch eine starke personelle Unterstützung, ähnlich wie ein Intensivbett, brauchen,“ sagt Pederiva. Warum die Bettenanzahl am AGES-Dashboard nicht mit den Zahlen des Eskalationsplan übereinstimmen, kann niemand beantworten. Unter der chaotischen Datenlage leidet auch das Prognosekonsortium der Regierung, das täglich die Corona-Lage berechnen und einschätzen muss. Das Prognosekonsortium kann sich auf die gemeldete Anzahl der Intensivpatienten nicht verlassen, weil verschiedene Krankenhäuser zum Teil Covid-Patienten anders diagnostizieren. „Wenn ein Patient auf die Intensivstation eingeliefert wird, der positiv auf Corona getestet wurde, und nach vier Wochen nicht mehr ansteckend ist, aber immer noch Intensivbetreuung braucht, wird er von manchen nicht mehr als Covid-Patient gezählt, von manchen schon. Auch eine Änderung in der Zählweise wird oft nicht mitgeteilt,“ berichtet Stefan Thurner, Komplexitätsforscher und Mitglied des Prognosekonsortiums. Die Situation wird jeden Tag neu bewertet und hängt von vielen Faktoren ab, nicht zuletzt von den Patienten und davon, welche Behandlung sie brauchen.

Am 14. April 2021 verkündet das Gesundheitsministerium noch einmal eine Verbesserung des AGES-Dashboards zu den Hospitalisierungen für ganz Österreich. Hier gibt es wieder eine Änderung der Anzahl der Corona-Intensivbetten für Wien. Am neuen Dashboard werden mit dem Erhebungstag 13. April für Wien 229 Corona-Patienten auf einer Intensivstation vermeldet, bei einer Gesamtkapazität von 489 Intensivbetten, die für die Behandlung von Corona-Patienten vorgesehen sind. Das entspricht einer Auslastung von 47 Prozent. Sowohl am Dashboard selbst als auch in einer Hintergrundinformation des Gesundheitsministeriums wird beschrieben, ab wann es ernst wird für das Gesundheitssystem: „Die Corona-Kommission definiert eine Auslastung aller tatsächlich aufgestellten Intensivbetten für Erwachsene in der Höhe von 33 % als Schwellenwert für ein sehr hohes Systemrisiko.“ Wenn man sich die Anzahl der „tatsächlich aufgestellten Intensivbetten für Erwachsene“ in Wien auf der Website „Krankenanstalten in Zahlen“ des Gesundheitsministeriums ansieht, kommt man auf eine verblüffende Zahl. Dort werden im Jahr 2019 702 Intensivbetten für Wien angeführt. Davon müsse man die Intensivbetten für Kinder abziehen, erklärt das Ministerium. Das sind rund 100 Betten. Das würde die Intensivkapazität auf 600 Betten reduzieren. Wenn man aber auf das Factsheet des Ministeriums von Jänner zurückblickt, werden dort 478 Intensivbetten Gesamtkapazität plus 183 noch mögliche frei zu machende Betten ausgewiesen. Das wären in Summe 661 mögliche Intensivbetten für Erwachsene in Wien. Damit wäre die Auslastung im April-Lockdown bei nur rund 35 Prozent.

Wien wird nicht Bergamo werden

Die Stadt Wien hat außerdem noch mehr Kapazitäten, die in die offiziellen Zahlen nicht mit einberechnet werden. Alle Privatspitäler der Stadt haben einen Kooperationsvertrag mit den öffentlichen Spitälern. Die Spitäler des WIGEV können bei Covid-Überlastung Operationen an die Privaten auslagern. Auf Nachfrage bei allen Privatspitälern vermeldete das Goldene Kreuz, dass es zum Recherchezeitpunkt keine WIGEV-Patienten betreue. Bei der Confraternität berichtet der ärztliche Direktor Johannes Drach von drei bis zehn OPs pro Woche. Das Spital habe noch Luft nach oben. Die Wiener Privatklinik hat acht WIGEV-Patienten in Behandlung und ebenfalls noch Kapazität. Das Sanatorium Hera wollte dazu keine Auskunft geben. Das Rudolfinerhaus hatte zum Recherchezeitpunkt 30 vorwiegend internistische Patienten übernommen. Mit April 2021 würden auch chirurgische Eingriffe übernommen werden. Das evangelische Spital konnte keine genauen Angaben über die aktuelle Anzahl der WIGEV-Patienten machen, aber es werden dort 56 Betten zur Verfügung gestellt mit zwei Intensivbetten extra. Dass die Kapazitäten der Privatspitäler nicht mehr beansprucht werden, hat mehrere Gründe. „Wir versuchen, so viele OPs wie möglich selbst zu machen und wir helfen uns unter den Ordensspitälern gegenseitig. Das orthopädische Spital Speising steigt jetzt auch in die Covid-Intensivbetreuung ein, da haben wir dann auch wieder mehr Betten zur Verfügung,“ berichtet Manfred Greher, ärztlicher Direktor des Herz-Jesu-Krankenhauses in Wien. „Operationen werden hauptsächlich verlegt, wenn sie Intensivkapazitäten einbringen,“ erklärt Markus Pederiva. „Es kommt auch auf das wichtige Vertrauensverhältnis von behandelndem Arzt und Patient an. Oft gab es im letzten Jahr Patienten, die nicht in einem anderen Haus operiert werden wollten,“ so Pederiva. Manchmal scheitert es auch daran, dass sehr komplexe Eingriffe in den Privatspitälern nicht durchgeführt werden können. Letztes Jahr wurden im Zuge der Coronakrise insgesamt rund 600 Operationen an die Privatspitäler ausgelagert.

Das Gesundheitssystem in Wien ist sehr gut aufgestellt. Auch beim Wiener Eskalationsplan gibt es noch weitere Intensiv-Reserven, die im Notfall mobilisiert werden können. Genaue Zahlen über die Verfügbarkeit von Intensivbetten können die Spitäler nicht angeben.

Von einem drohenden Kollaps kann keine Rede sein, wenn die Situation auch angespannt ist. „In Wien sind in den letzten Jahren die Intensivkapazitäten sogar noch ausgebaut worden. Das ist wahrscheinlich der Grund warum wir hier gerade mit einem blauen Auge davonkommen. Ganz im Gegensatz zu anderen Ländern in Europa,“ beurteilt Intensivmediziner Staudinger vom AKH die Lage. Zahlen über Intensivbetten, Patienten und Auslastungen sind immer ein Richtwert. Sie sagen kaum etwas über die reale Situation aus. „Es warten immer alle auf den Kipppunkt: Ab Patient X ist Sense. Aber diesen Punkt wird es nicht geben, auch in ganz Österreich nicht, weil wir sehr gut aufgestellt sind. Es wird keine Bilder wie in Bergamo geben, weil wir auch aus der dortigen Situation gelernt haben,“ erklärt Markus Pederiva. Warum Operationen generell verschoben werden müssen, kann der Facharzt für Unfallchirurgie und Orthopädie und ehemalige Chef der Unfallchirurgie in Mistelbach, Martin Schwarz, nicht nachvollziehen: „Was soll das mit diesen Operationen, die verschoben werden müssen? Eine Operation ist notwendig oder eben nicht. Es gibt keine OPs, die ‚nicht notwendig sind‘. Im ersten Lockdown letztes Jahr hatten wir das Thema, dass es zu wenig Schutzausrüstung gab und wir deswegen OPs verschieben mussten. Das ist jetzt kein Thema.“ Jeder Arzt würde immer darauf schauen, dass sein Patient die bestmögliche Behandlung bekommt. „Es wird die Unsicherheit hochgehalten,“ vermutet Schwarz. „Ein Arzt sollte in so einer Situation eigentlich Zuversicht und Hoffnung verbreiten. Es ist dieses Wording, das mich ärgert. Wir lassen niemanden zurück, dafür verbürge ich mich. Aber das wird gerade nicht vermittelt. Solche Situationen gab es immer. Dann musste man dem Patienten vielleicht sagen: ‚vielleicht bekommst du heute kein Bett, aber dafür morgen oder übermorgen, aber du bekommst es!‘“

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