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Das Ethikdilemma eines Covid-19-Impfarztes

Anna H. ist tot.

Plötzlich und unerwartet verstorben am dritten Tag nach ihrer zweiten Covid19-Impfung. Anna H. war 94 Jahre alt. Eine noch alleinlebende, liebenswerte Uroma mit gutem Familienanschluss und täglichem Kontakt zu ihrer sie betreuenden Tochter.      
Am Tag der zweiten Covid-Impfung ging es ihr nicht ganz so gut, aber in ihrem Alter kam das auch sonst gelegentlich vor. Nachdem ich sie deshalb noch einmal gründlich untersucht hatte und keinen beunruhigenden Befund feststellen konnte, entschieden wir uns gemeinsam mit ihrer Tochter, ihr den zweiten Teil der Impfung dennoch zu verabreichen, damit sie in weiterer Folge mit dem erhofften vollen Impfschutz auch wieder unbeschwerten Kontakt zu ihrem Enkel und zum zweiten Urenkel haben und sich auch wieder unter Leute trauen könnte, was sie zuletzt komplett vermieden hatte.

An den Tagen nach dieser Impfung fühlte sie sich müder als sonst und etwas geschwächt, sodass sie am Ostersonntag, dem dritten Tag nach der Impfung, nicht zum Familienessen kommen wollte. Beim gewohnten Telefongespräch am Abend klang sie aber schon wieder ganz zuversichtlich.
Da sie sich am nächsten Tag nicht wie gewohnt früh meldete, suchte die Tochter sie sofort in der Wohnung auf und entdeckte sie voll angezogen, ohne Verletzungen und mit einem friedlichen Gesichtsausdruck tot am Boden liegend. 

Wäre sie ohne Covid-Impfung noch am Leben?
War die Nutzen-Risiko-Abwägung am Impftag falsch?
Hätte ich ihr mögliche Hilfe durch Impfschutz bei Nichtdurchführung der Impfung vorenthalten und sie einem erhöhten Infektrisiko ausgesetzt?
Sind wir Impfärzte bei unseren Hochrisikopatienten nicht ständig in einem Graubereich von richtig und falsch, zu mutig und anmaßend oder zu vorsichtig und feige?
Was ist mit all den von mir geimpften Pflegeheimbewohnern?

Immer ein ständiger individueller Entscheid zwischen noch hilfreich und möglicherweise zu belastend.

Wo ist die Grenze von „zu alt, zu schwach, zu krank?“

Laut medizin-ethischer Impfpriorisierungsvorgabe sind sie die erste zu schützende Gruppe der vordringlich zu impfenden Menschen.

Wie viele würden ohne Impfung an Covid-19 sterben?
Und wie viele sterben an der Impfung?

Ein Todesfall nach Impfung bringt aber stets die Frage mit sich: Habe ich richtig gehandelt?

Die Tochter von Anna H. hat sich selbst einige Tage nach dem Tod der Mutter den ersten Teil der Covid-Impfung verabreichen lassen.

Und ich werde ab morgen wieder weiter impfen.

All dies zusätzlich zum ganz normalen Kassenarzt-Alltag, der in dieser Pandemie-Zeit schon fordernd genug wäre.

Die Situation in der Allgemeinmedizin wird man nach dieser Pandemie hoffentlich wieder mehr zu schätzen wissen, sodass sich auch wieder mehr junge Menschen für dieses Fach entscheiden können.

Übrigens: Hätten Sie Anna H. geimpft?

Bild

Sharon McCutcheon/Unsplash

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