Warum ich schreibe, nicht mehr schweigen mag? Vielleicht sind es die Gene meines Großvaters, den es in unvergleichlich schlimmeren Zeiten in den Widerstand zog, wobei die Gleichschaltung der öffentlichen Meinung und Zensur auch in unserer Zeit bedrohliche Ausmaße erreicht haben. Mehr noch ist es aber mein Herz, das sich in der nicht enden wollenden Pandemie Monat für Monat bedrängter anfühlt. Immer schmerzlicher sehnt es sich angesichts der oft willkürlichen Maßnahmen danach, dass die Lebendigkeit wieder Raum bekommt. Immer intensiver meldet sich auch meine innere Stimme und verlangt ohne Zweifel danach, dass wir als Gesellschaft nach über einem Jahr der Covid-19-Todesvermeidung die Lebenswürde dringend wieder über das bloße Überleben stellen. Was könnte das konkret bedeuten?
Anstatt dauernd nur Intensivbetten zu zählen und deren Auslastung in nahezu jeder Nachrichtensendung zu vermelden, wäre die wesentlich menschlichere Frage, wie würdevolles Sterben aussehen kann. Ob es nicht hoch an der Zeit wäre, anstatt Intensivbetten großzügig Hospizbetten zu schaffen, in denen hochbetagte schwerkranke Menschen, umgeben und begleitet von der Liebe und Fürsorge ihrer nächsten Angehörigen, ihren letzten Atemzug tun dürfen? Beim Anblick der einzig in medizinische Hochtechnologie eingebetteten einsam Sterbenden zieht sich wohl nicht nur mein Herz zusammen.
Einsamkeit ist nicht nur im Sterben ein unwürdiger Zustand, sondern generell und besonders am Lebensabend. Wie oft sind Besuche das letzte Lebenselixieralter Menschen? Mit einer Testmöglichkeit am Eingang eines jeden Altersheimes (an Stelle unsinniger Massentests) hätte die würdelose Isolation längst schon beendet werden können, wären Opas und Uromas ihre Enkel und Urenkel als ohnehin schon rare Freude erhalten geblieben.
Und wie unwürdig ist es, Menschen im „Hygienismus“ dieser Wochen und Monate nach ihrer Viruslast mehr oder weniger als meidenswert zu klassifizieren? Leben ist Begegnung, Leben ist Nähe, Leben ist Spüren von Verbundenheit. Aufgrund der nach außen einzuhaltenden Distanz müssen wir uns auch innerlich von diesen elementaren Grundbedürfnissen ständig distanzieren. Damit untergraben wir nicht nur unser gesundes Empfinden, sondern fataler Weise auch unsere psychische Gesundheit und somit unser Immunsystem. Der vermeintliche Schutz des Überlebens wird zum Bumerang.
Noch spüre ich meine Vitalität. Im Gegensatz zu der sich in erschreckendem Ausmaß ausbreitenden Massendepression, die Leben auf blankes Vegetieren und Funktionieren reduziert. Die Würde wieder in den Vordergrund zu stellen, hieße hier vor allem, übertriebene Ängste abzubauen, anstatt sie regelmäßig medial zu schüren. Angst lässt uns in unserem Menschsein verkümmern, beschränkt Leben auf Untotsein, hemmt jegliche Motivation und Kreativität – auch jene zur Krisenbewältigung.
Und schließlich wäre der Würde des Alters dringend die Würde der Kinder und Jugendlichen gleichzustellen. Manchmal wecken mich nachts die berechtigten Vorwürfe der nächsten Generation, deren finanzielle Wachstumsgrundlage wir gerade fraglos verschleudern, als gäbe es kein Morgen. Wo bleibt der achtsam-liebevolle Blick, der in den Jungen das kommende Leben keimen sieht, das es im Sinne guter Gärtner im Wachsen zu beschützen gilt? Stattdessen werden sie in ihrer Lebendigkeit erstickt, dominieren seit Monaten die moralisierenden Erziehungsschnitte, um im Bild des Gärtners zu bleiben. Wie soll daraus die blühende Fülle des Lebens erwachsen?
Hier schließt sich nämlich der Kreis: Denn wer nach einem in verantworteter Freiheit gelebten Leben, das Raum zur Entfaltung geboten hat, wann auch immer gehen muss, wird weniger um maximale Lebensverlängerung kämpfen. Ein solchermaßen erfülltes Leben darf dann,gehalten von der Nähe und Berührung der Liebsten, dem natürlichen Ende zu gehen. Nicht als Zahl auf einem Dashboard, sondern als würdevoll gelebtes Leben. Das jedenfalls wäre mein innigster Wunsch – nicht nur für mich.