Wissenschaft, wie der Name schon sagt, soll Wissen schaffen, zum Wohl und zur Weiterentwicklung der Menschheit. Auch Studien, die ihr Studienziel verfehlen, schaffen Wissen, denn sie decken zumindest auf, in welche Richtung man gerade nicht weiterforschen sollte. Nichtwissen ist also in der Wissenschaft kein Problem, sogar ein Teil der Lösung — ganz im Gegensatz zu Wissen, das in Studien generiert, aber aus anderen Beweggründen verschwiegen und unterschlagen wird.
Medikamente gegen eine SARS-CoV-2-Infektion bzw. Covid-19 sind weiterhin rar. Diskutiert wird deshalb unter anderem die Einnahme von Zink, Vitamin C und D. Laut neuen Studien wirken sie aber nicht. So zu lesen auf Science ORF vom 15.3.2021[1].
Vitamin C (Ascorbinsäure) wirkt als Antioxidans gegen schädliche Stoffwechselprozesse im Körper und schützt somit gegen eine Reihe von Krankheiten. Seiner Anwendung gegen das Coronavirus dürfte allerdings eine Studie von US-Kliniken jetzt einen Riegel vorgeschoben haben. Sie ist im „Journal of the American Medical Association“ (JAMA) erschienen. Aufgenommen wurden 214 SARS-CoV-2-Infizierte. Ihr Alter betrug im Durchschnitt 45 Jahre (auch wenn es weh tut, bei der Variablen „Alter“ einen Mittelwert und keinen Median zu lesen). In vier gleich großen Gruppen erhielten sie zehn Tage lang entweder täglich 50 Milligramm Zink, acht Gramm Ascorbinsäure, beides oder nur die Standardbehandlung ohne diese Mittel [2].
Was auf Science ORF nicht berichtet wurde, ist der beachtliche Absatz über Stärken und Schwächen dieser Studie:
Die Stärken sind in einem Satz zusammengefasst:
„Eine wesentliche Stärke ist das pragmatische Design der Studie und ihr neuartiger primärer Endpunkt, der auf einem Fragebogen zur Symptombewertung (Zeit bis zur Reduzierung des Symptom-Scores um 50%) basierte [2].“
Dazu lässt sich sagen, dass ein neuartiger Endpunkt zu Beginn einer Forschungsfrage wohl neuartig sein sollte. Denn ansonsten könnte man sich die Studie sparen. Ein Fragebogen zur Symptombewertung kann kaum als Stärke gewertet werden, da wir es dabei mit einer subjektiven Einschätzung und nicht mit einer objektiven Messmethode zu tun haben.
Doch nun zu der wesentlich umfangreicheren Schwächen-Liste, die die Autoren selbst eingestehen:
Löblicherweise war die Studie zwar randomisiert, d.h. die Testpersonen wurden nach dem Zufallsprinzip den verschiedenen Gruppen zugeordnet, aber weder kontrolliert (durch eine Placebogruppe) noch verblindet. Im besten Falle weiß weder der Teilnehmer der Studie noch der Versuchsleiter, worum es geht und welcher Gruppe er zugeteilt wurde. Damit lassen sich Verzerrungseffekte wesentlich reduzieren. Warum das nicht gemacht wurde, wird nicht erwähnt. Weshalb die Ethikkommission nicht darauf bestanden hat, dass das Studiendesign zu diesem Zwecke abgeändert wurde, ist ebenfalls nicht bekannt (aber durchaus verwunderlich). Einen deutlichen Erkenntnisgewinn mit so einfachen und kostengünstigen Maßnahmen nicht in einer Studie einzufordern, ist schlichtweg „unethisch“.
Zu Bedenken ist auch, dass die Patienten aus einem einzigen Gesundheitssystem rekrutiert wurden, was die Aussagekraft der Studie ebenfalls limitiert.
Auch eine Schichtung der Symptome nach Alter, Geschlecht, ethnischer Herkunft, Dauer der Symptome vor dem Test wurde in der Studie nicht berücksichtigt.
Ein großes Problem bei orthomolekularen Interventionsstudien ist zudem die Dosierung. Acht Gramm Ascorbinsäure, wie in der Studie verwendet, können für den einen Patienten bedeuten, dass er bereits seine „bowel tolerance“ erreicht hat und einen osmotisch bedingten Durchfall bekommt. Bei einem anderen, vor allem akut Erkrankten, kann es jedoch sein, dass diese Menge bei Weitem zu gering ist, um den gewünschten Effekt zu erzielen.
Rätselhaft ist ferner, weshalb für diese Studie reine Ascorbinsäure verwendet wurde, anstatt das wesentlich besser bioverfügbare (Natrium-) Ascorbat, welches durch simple Zugabe von Backpulver entsteht. Es wurde auch nicht erhoben, ob bereits vor der Aufnahme in die Studie Nahrungsergänzungsmittel eingenommen wurden. Jüngste Studien zeigen, dass ein Vitamin-D-Mangel mit einem erhöhten Risiko für SARS-CoV-2-Infektionen und einem erhöhten Risiko für Krankenhausaufenthalte verbunden ist. Eine mögliche Rolle anderer Nahrungsergänzungsmittel kann also nicht ausgeschlossen werden. Derzeit werden randomisierte Studien durchgeführt, um zu beantworten, ob eine Vitamin-D-Supplementierung Patienten zugutekommen kann, bei denen SARS-CoV-2 diagnostiziert wurde.
Es gibt in der orthomolekularen Medizin einen berühmten Grundsatz: „Take enough. Take it long enough. Take it often enough.“ — Nimm genug, nimm es lange genug, nimm es oft genug. Der frühzeitige Abbruch der Studie steht dieser Praxis jedoch entgegen. Eine Einmalgabe von 50mg Zinkgluconat vor dem Schlafengehen dürfte außerdem in der Tat etlichen Studienteilnehmern Übelkeit und Magenbeschwerden bereitet haben. Das sollte allerdings nicht dem untersuchten Wirkstoff zugeschrieben werden, sondern eher dem Prüfarzt.
In puncto „Offenlegung von Interessenskonflikten“ zu dieser Studie ist zu lesen: Dr. McWilliams gab an, Beratungsgebühren von Gilead Sciences außerhalb der eingereichten Arbeiten erhalten zu haben. Dr. Desai berichtete, dass er außerhalb der eingereichten Arbeiten Zuschüsse von Myokardia erhalten und vom Haslam Family Endowed Chair für Herz-Kreislauf-Medizin unterstützt wurde. Es wurden keine weiteren Angaben gemacht.
Neben diesen orthomolekularen Substanzen steht derzeit auch das Parasitenmittel Ivermectin als Behandlungsoption zur Debatte. In der Tropenmedizin wird es seit Jahrzehnten eingesetzt. Besonders segensreich ist es beim Zurückdrängen der Flussblindheit in Afrika. 2015 wurden die Entdecker mit dem Medizinnobelpreis geehrt [1]. Auch hier findet Science ORF gerade mal eine Studie aus Kolumbien, die man ebenfalls in der vorhin geschilderten Weise beleuchten könnte, was aber schade um die Lesezeit wäre.
Zu den Interessenskonflikten gibt es folgende Angabe: Während der Studie gab es Zuschüsse und auch persönliche Zuwendungen von Sanofi Pasteur, GlaxoSmithKline und Janssen, Merck Sharp & Dohme und Gilead [3].
Es stellt sich die Frage, weshalb der ORF im Zuge seiner Recherchen jedoch nicht über die derzeit 46 Studien (davon 24 randomisiert und kontrolliert) über Ivermectin für Covid-19, durchgeführt von 371 Wissenschaftlern mit 15.480 Testpersonen, gestoßen ist, in denen beachtliche Effekte gefunden wurden.
Die Echtzeit Metaanalyse dieser Studien kommt zu folgendem Ergebnis: 100% der bisher 46 Studien berichten von positiven Effekten sowohl bei der Prophylaxe wie auch bei der Behandlung in verschiedenen Stadien der Erkrankung.
Die Wahrscheinlichkeit, dass eine ineffektive Behandlung zu so positiven Ergebnissen wie die bisherigen 46 Studien führte, wird auf 1 zu 70 Billionen geschätzt (p = 0,000000000000014).
Kritisiert wird außerdem bei den derzeitigen Therapieoptionen für Covid-19, dass es sich oft nur um Beobachtungsstudien handelt [1]. Ohne diese wäre allerdings auch nie aus dem moderaten PDE-5-Hemmer Sildenafil zur Behandlung von Bluthochdruck der weltweite Siegeszug von Viagra geworden. Und wer wollte dessen Wirksamkeit bezweifeln?
Letztendlich drängt sich die altbekannte Frage auf, wie wissenschaftlich die Wissenschaft ist. Warum dauerte es Jahrzehnte, bis Tabak offiziell als gesundheitsschädlich eingestuft wurde? Warum denken viele Leute noch immer, der Klimawandel sei ganz normal? Warum wollen wir nicht wahrhaben, dass Pestizide für das Bienensterben verantwortlich sind, obwohl dies durch zahlreiche Studien hinreichend belegt wurde?
Die Zahl der wissenschaftlichen Studien ist groß, die der Kontroversen ebenso. Woher kommt dieses Zweifeln? Dass die Industrie Erkenntnisse verschweigt, die ihren Profit schmälern könnten, ist pervers, aber nicht verwunderlich; das Ausmaß der ausgefeilten Strategien, die eingesetzt werden, um Wissenschaft zu missbrauchen, ist allerdings noch weitgehend unbekannt.
Agnotologie ist ein junges, interdisziplinäres Forschungsgebiet, das sich mit der bewussten Produktion von Nichtwissen befasst und die dahinter liegenden Mechanismen offenlegt. Wissenschaftshistorikerin Londa Schiebinger sieht Unwissen nicht unbedingt als das Fehlen von Wissen, sondern als das Resultat politischer, kultureller und kommerzieller Kämpfe [4]. So gründete beispielsweise die Tabakindustrie eine gemeinsame Forschungsplattform zum gezielten Produzieren von Zweifeln an der Schädlichkeit ihres Produkts [5]. Hersteller von Süßigkeiten und Getränken sahen ihren Profit massiv in Gefahr. In den inzwischen teilweise veröffentlichten Gesprächsprotokollen ist nachzulesen, dass John Hickson, ein Top-Zuckerlobbyist und Präsident der Sugar Research Foundation erklärte, man müsse mit eigener Forschung, Informationskampagnen und Gesetzen gegen diese Erkenntnisse anarbeiten [6]. Ähnliche Prozesse wurden bei der Geheimhaltungspraxis der Regierung der Vereinigten Staaten, der Klimaforschung und der Debatte über gentechnisch veränderte Organismen geschildert [7].
Am Beispiel spektakulärer Gesellschaftsskandale entlarven Agnotologen die Methoden der Wissensbehinderung: Es werden „Nebelkerzen“ geworfen, Datenreihen frisiert und Versuchsprotokolle gefälscht. Dabei zeigt sich jedoch auch, wie unbewusste Denk- und Verhaltensmuster die Menschen dazu veranlassen, die Unwissenheit zuweilen dem Erkenntnisgewinn vorzuziehen [8].
Im Lichte dieser Betrachtungsweise stellt sich die Frage, was Agnotologen in Zukunft über das Tragen von Gesichtsmasken, über Lockdown-Regelungen oder die Impfstoffe gegen Covid-19 herausfinden werden. Was werden sie über die Medien zu berichten haben, die über die Wirkungslosigkeit von Vitaminen und Mineralstoffen und andere bewährte Wirkstoffe, die nicht patentierbar und damit finanziell für die Pharmaindustrie nicht von Interesse sind, zu sagen haben?
Quellen:
- Hiekel, Matthias: Zink, Vitamin C und D helfen nicht. https://science.orf.at/stories/3205332/
- Thomas S, Patel D, Bittel B, et al. Effect of High-Dose Zinc and Ascorbic Acid Supplementation vs Usual Care on Symptom Length and Reduction Among Ambulatory Patients With SARS-CoV-2 Infection: The COVID A to Z Randomized Clinical Trial. JAMA Netw Open. 2021;4(2): e210369. doi:10.1001/jamanetworkopen.2021.0369
- López-Medina E, López P, Hurtado IC, et al. Effect of Ivermectin on Time to Resolution of Symptoms Among Adults With Mild COVID-19: A Randomized Clinical Trial. JAMA. Published online March 04, 2021. doi:10.1001/jama.2021.3071, Direktlink: https://jamanetwork.com/journals/jama/fullarticle/2777389
- Agnotology and Exotic Abortifacients: The Cultural Production of Ignorance in the Eighteenth-Century Atlantic World, Aufsatz von Londa Schiebinger, 2005 (PDF-Datei; 122 kB)
- Brown & Williamson: Smoking and Health Proposal. In: Minnesota Documents. Industry Documents Library, UCSF, 1969, S. 4f. Direktlink: https://www.industrydocuments.ucsf.edu/tobacco/docs/#id=psdw0147
- Frank Wittig: Wissenschaftsbetrug: Wie die Zuckerlobby die Welt täuschte. In: W wie Wissen. Das Erste, 7. Januar 2017. Direktlink: https://www.daserste.de/information/wissen-kultur/w-wie-wissen/zuckerlobby-102.html
- Frank Uekötter: Die Wahrheit ist auf dem Feld – Eine Wissensgeschichte der deutschen Landwirtschaft. Vandenhoeck und Ruprecht, Göttingen 2010, ISBN 978-3-525-31705-1, S. 438
- Forschung, Fake und faule Tricks auf YouTube, 17. Februar 2021, (Dokumentation von Pascal Vasselin und Franck Cuveillier über Vorgehensweisen und Verschleierungstaktiken zum Thema Agnotologie, ARTE France & ZED, 2020).
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