Erste Ergebnisse der Online-Umfrage „Jetzt sprichst du“ www.jetztsprichstdu.com
Corona jährt sich zum ersten Mal. Für jemanden, der davor bereits 30, 40 oder mehr Jahre „normal“ gelebt hat, mag das keine lange Zeit sein. Für viele Kinder und Jugendliche jedoch stellt ein Jahr einen gewaltigen Zeitraum ihres bisherigen Lebens dar, eine Zeitspanne, in der sich vieles verändert hat, wenig davon zum Guten. Vieles davon ist unwiederbringlich und Normalität ist nicht in Sicht.
Wie steht es um die psychische Gesundheit der Kinder und Jugendlichen in Österreich? Univ.Prof. Dr. Manuel Schabus, Kinder- und Jugendtherapeut und Professor für „Schlaf, Kognition und Bewusstsein“ am Fachbereich Psychologie der Universität Salzburg, hat sie in einer großen Online-Studie selbst zu Wort kommen lassen. Insgesamt 600 Volksschülerinnen und Volksschüler im jungen Alter von 6 bis 11 Jahren nahmen teil. Schabus kommt zu dem erschreckenden Ergebnis: 77,5% der Kinder geben an, dass es ihnen schlechter geht als vor Corona. Nur jedem Fünften geht es „ungefähr gleich gut“.
Die Bandbreite der unangenehmen Gefühle ist groß. Fragt man nach den drei wichtigsten Gefühlen, so sagen 59% der Kinder, dass sie sich häufiger wütend oder genervt fühlen, 41% sind häufiger traurig und 36% häufiger einsam als zuvor.
33% der Volksschüler klagen während der Pandemie über Schlafprobleme. Mehr als die Hälfte der Heranwachsenden hat Angst vor der aktuellen Corona-Situation, wobei die größte Angst ist, „dass es noch lange dauern wird, bis das Leben so wie vorher wird“ (41%), dass „das Leben gar nicht mehr so wie vorher wird“ (37%) und dass „Eltern, Geschwister oder ein naher Angehöriger (zum Beispiel Oma oder Opa) durch Corona stirbt“ (31%). Es ist gar nicht auszumalen, was diese nun seit mehr als einem Jahr vorherrschenden Ängste mit den Jüngsten unserer Gesellschaft machen werden.
Wenn es um die eigene Zukunft geht, sehen die Kinder wenig Perspektiven: Normalität erwarten mehr als ein Drittel erst 2022, 29% sogar erst ab 2023. Bis dahin heißt es weiterhin verzichten. Zählt man die drei wichtigsten Punkte zusammen, die die Jungen nennen, wenn sie gefragt werden, was sie am meisten an der Normalität vermissen, so sagen 78%: „Keine Maske tragen müssen und die Gesichter der Menschen sehen“, 69% vermissen es, Freunde ohne Einschränkungen zu treffen und 62%, Sport zu treiben. Nur 4 von 100 Kindern geht nichts besonders ab! Die Folge? Die Kinder sind wenig körperlich aktiv (88%). 76 % verbringen mehr Zeit mit dem Smartphone, der Spielkonsole oder vor dem Fernseher als vor Corona. Es ist schwer abschätzbar, welche Effekte es haben wird, wenn man Freunde nicht ungestört oder regelmäßig treffen kann oder mit der Maske in einer eigenartig emotional neutralisierten Umgebung leben muss, aber die Fähigkeit zur Empathie und zum emotionalen Austausch werden davon wohl kaum davon profitieren…
Und wie steht es mit dem Lernen und der Schule? In Sachen Homeschooling finden die meisten Befragten bei ihren Eltern positiven Rückhalt. 72% gaben an, dass die Familie sie beim Lernen daheim gut unterstützt hat. Bei jedem Fünften entstand der Eindruck, dass die Eltern überfordert sind oder sowieso keine Zeit haben, beim Homeschooling zu helfen. Doch die überwältigende Mehrheit, nämlich 74% der Befragten, gab an, dass sie den normalen Schulbetrieb sehr vermisst. Mehr als die Hälfte der Schülerinnen und Schüler haben das Gefühl, in diesem Jahr weniger gelernt zu haben. Es wird sich zeigen, wie es sich in der Gesellschaft auswirkt, wenn über solch ausgedehnte Zeiträume alle Schulstufen, aber auch der Hochschulbetrieb weitgehend gezwungen sind, auf digitale Lehre umzustellen und bei den Lehrinhalten auf allen Ebenen Abstriche gemacht werden müssen.
Schulbetrieb in Corona-Zeiten bedeutet vor allem: Maskentragen und getestet werden. Fast jedes zweite Volksschulkind findet den „Nasenbohrer-Test“ sehr unangenehm, jedem dritten macht er sogar Angst. Auf Platz eins der größten Nerv-Faktoren ist unangefochten das Tragen der Maske. Die Befragten berichteten unter anderem, dass sie keine Masken-Pause machen dürfen, vom Lehrpersonal angeschrien werden, sobald sie sie kurz absetzen oder beschimpft werden, wenn sie die Abstände nicht einhalten. „Ich schaffe das mit dem Abstand nicht so gut“, schreibt ein Kind anonym, „Ich mag auch gerne jemandem nah sein.“ „Es fühlt sich an, als dürfen wir keine Freunde mehr sein,“ berichten zwei weitere.
Im Rahmen der Studie bekamen die Kinder auch die Gelegenheit, in Kommentarfeldern ihre Wünsche und Eindrücke in eigenen Worten zu formulieren. Überraschend viele nutzten dies, und manche sogar, um die Erwachsenen zum konkreten Handeln aufzufordern. Viele sind genervt von der allgemeinen „Panikmache“, davon, „dass die Menschen so böse und nervös geworden sind“. Zahlreiche klagen darüber, dass sich die Erwachsenen zu wenig für die Kinder einsetzen und Corona den Alltag bestimmt. „Wir Kinder sind nicht schuld. Hört auf, immer über Corona zu reden.“ Sie verstehen auch nicht, wieso sie immer noch nicht Fußball und Tennis spielen oder Tanzen gehen können. „Wenn wir sowieso in der Schule testen müssen, dann lasst uns bitte wieder turnen und an Nachmittagskursen teilnehmen.“
Auch Politiker werden mehrfach direkt angesprochen. „Sie sollen nicht lügen und die Welt wieder aufsperren“, „Lasst uns unsere Kindheit leben, weil wir erleben sie nur einmal“, oder: „Die Mama soll das Geld bekommen, das sonst die Lehrer bekommen“. Einige machen sich Sorgen um ihre Eltern und berichten von heimlich weinenden Vätern und Müttern. Ein Kind schreibt: „Ich darf meine Oma und Opa kaum sehen, das ist doof!“ Ein anderes hat Angst vor der Polizei und den Konsequenzen für seine Mutter, die auf Demonstrationen geht. „Ich dachte, die Polizei beschützt uns, die Polizei macht mir jetzt Angst, ich habe Angst, dass sie meiner Mama weh tun werden, wenn meine Mama mit den vielen Leuten mit spazieren geht.“
Leicht könnte der Eindruck entstehen, dass solche Aussagen von bereits reiferen Viertklässlern kommen, doch selbst die Kleinsten fordern die Machthaber auf, etwas zu tun: „Hallo Politiker! Ich möchte bitte wieder mein altes Leben zurück. Ich möchte die Tests in der Schule nicht mehr haben. Mir macht das alles Angst. Das hat jetzt meine Oma für mich geschrieben, da ich noch nicht alle Buchstaben schreiben kann.“
Schabus und sein Team planen in wenigen Wochen eine weitere Datenanalyse und Aussendung mit 4000 Kindern und Jugendlichen zum selben Thema. Der Fokus liegt diesmal auf zwei Fragen: Nehmen Mädchen und Jungen die Situation unterschiedlich wahr? Und erfahren Kinder, die in einem ängstlichen Umfeld aufwachsen, die Krise anders als solche, deren Umfeld weniger Angst hat?
Auf www.jetztsprichstdu.com können alle Kinder und Jugendlichen in Österreich anonym von ihrem Recht Gebrauch machen, ihre Bedürfnisse, Wünsche und Hoffnungen auszusprechen. Danach liegt es an den Erwachsenen, Verantwortung zu übernehmen und ins Handeln zu kommen.
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Kelly Sikemma/Unsplash