In einem meiner ärztlichen Dienste in einer psychiatrischen Abteilung eines Klinikums kam eine eigentlich sehr rüstige 93-jährige Dame zur Aufnahme – ihr Leben lang psychisch und auch weitgehend körperlich gesund gewesen, seit längerem verwitwet, jedoch im gleichen Haus mit einer Enkelin lebend, zu der immer ein guter Kontakt mit häufigen Besuchen und gemeinsam verbrachter Zeit bestand. Außerdem ging die alte Dame häufig in den Ort, um einzukaufen, Dinge zu erledigen und natürlich dabei auch Bekannte zu treffen und sich mit ihnen auszutauschen.
Plötzlich wurde sie von Tochter und Enkelin darüber in Kenntnis gesetzt, dass sie aufgrund einer kursierenden potentiell tödlichen Viruserkrankung sämtliche Erledigungen an andere, jüngere Familienmitglieder delegieren müsse, die bestellten Einkäufe vor ihre Wohnungstüre gestellt würden und ihre Enkelin sie bis auf weiteres nicht mehr besuchen dürfe.
Die alte, bislang aber nach wie vor sehr lebensfreudige Dame hat sich pflichtgetreu an alle Maßgaben gehalten, ist dabei jedoch derart vereinsamt, dass sie keinen Sinn mehr in ihrem Dasein finden konnte. Dieses einsamen Lebens müde, von einem dringlichem Todeswunsch begleitet, hat sie sich in ihrer Verzweiflung mit einem Küchenmesser eine beträchtlich lange und sehr tiefe, klaffende Schnittwunde an der Ellenbeuge zugefügt, die sie – Gott sei Dank – überlebt hat.
Sie akzeptierte dies ebenso ergeben, doch ihr eigenes Handeln wir ihr derart unangenehm, dass sie ihren Familienangehörigen erst am übernächsten Tag davon erzählte und daraufhin in unsere psychiatrische sowie chirurgische Behandlung gebracht wurde.
Ich habe großen Respekt vor älteren Menschen. Dieser tragische Vorfall ist hat mich daher einige Zeit lang nicht losgelassen.
Dorothea Reingruber