Nachdem ich minutiös darauf achte, meine jährlichen Rituale gerade jetzt in besonderem Maß zu pflegen, folge ich einem Anschlag in meinem Haus, der das Prozedere der diesjährigen „Pandemie-Sternsingeraktion“ ankündigt, und mache mich in letzter Minute mit meinem Hund im Schlepptau auf den Weg in Richtung Kirche. Die vorher überlegten fünf Euro Spendengeld habe ich vergessen, und am halben Weg fällt mir auch noch ein, dass ja Maskenpflicht herrscht. Ich überlege also, wie ich damit umgehen soll. Nach dem ersten Impuls, das Ganze zu verwerfen, entscheide ich mich, mutig ohne Maske hineinzugehen und beobachte das Verhalten der spärlich eintröpfelnden Besucher/innen: Alle setzen brav ihre Masken auf.
Auch ich betrete die Kirche und ziehe dem unausgesprochenen Gruppenzwang folgend doch mein Wolltuch irgendwie hinauf, um in den nächsten zehn Minuten beinahe ohne Unterlass meine juckende Nase zu reiben und das Tuch etwas wegzuhalten, um meine angelaufene Brille wieder durchsichtig werden zu lassen. Langsam gehe ich im Seitenschiff nach vorn und beobachte eine Zeit lang die Szenerie. Die drei mehr erwachsenen als kindlichen und wahrscheinlich frierenden Sternsinger stehen mit großem Abstand voneinander vor dem Altar, verkleidet und mit blütenweißer Stoffmaske im Gesicht. Die an zwei Händen abzählbaren Besucher/innen stehen irgendwie verteilt in der Kirche und stellen sich dann an, um mit großem Abstand am Mittelgang nach vorn zu schreiten, wo sie sich den Segen mitsamt dem Segenszeichen für die Wohnungstür abholen und den Ablass zahlen. Ähnlich dem Kommunionsritual bleiben die meist in Familienkonstellation Erschienenen vor dem Altar stehen, die Sternsinger sagen für jeden ihr fast unhörbares Sprüchlein auf und strecken den Betroffenen sodann zwei eineinhalb Meter lange, frisch angeschaffte, noch hellbraune Seuchenstäbe aus Holz entgegen, an deren Enden sich ein blechener Selbstbedienungsteller mit weißen Kreidesäckchen und goldenen Türaufklebern sowie eine im Verhältnis winzige Spendenbox in Form eines nostalgisch anmutenden dunkelbraunen Schatzkästchens mit goldenen Rändern befinden.
Nachdem ich das Ritual mehrere Minuten lang beobachtet habe, beschließe ich, unverrichteter Dinge wieder zu gehen. Die Vorstellung, dass ich jeden Tag meine Wohnungsschwelle überschreiten könnte, mit dem Blick auf durch Schreibutensilien fabrizierte Schriftzüge, die von einem langen Stecken entgegengereicht worden wären und die mich an die milde Gabe maskierter Leute erinnern würden, diese Vorstellung erspare ich mir dann doch; die Kreide des letzten Jahres wird es auch tun.
Auf dem Heimweg fallen mir die Geschichten über die vielen alten, zum Teil bewegungseingeschränkten oder pflegebedürftigen Menschen in meinem Haus ein, die sich jedes Jahr auf die Sternsinger gefreut und minutenlang in der Nähe der Türe dem über das Stiegenhaus näherkommenden Singen gelauscht haben, Geld vorbereitet und viele frisch gekaufte oder längst abgelaufene Naschsachen in die großen weißen Baumwollsäcke gesteckt haben. Heuer wird niemand zu ihnen kommen.
8.1.2021