Im Frühjahr 2014 stellte sich für meine betagten Eltern und mich die Frage, wo sie ihren Lebensabend verbringen sollten. Wir besichtigen ein Altersheim, doch uns wurde schnell bewusst, dass das nicht den Bedürfnissen der einzelnen Personen entsprach. Meine Mutter war ein kommunikativer Typ und hätte sich bestimmt wohlgefühlt. Meinen Vater (ein pensionierter Arzt) sah ich jedoch aufgrund seiner Persönlichkeitsstruktur das Zimmer nicht mehr verlassen. Der Anblick der vielen hinfälligen Bewohner, ohne helfen zu können, hätte ihn wahrscheinlich viel zu sehr deprimiert.
Einige Tage später erfuhr ich, dass in meinem Heimatdorf eine altes Winzerhaus zum Verkauf stand, dass man mit relativ überschaubarem organisatorischen, arbeitstechnischen und finanziellen Aufwand in zwei halbwegs behindertengerechte, getrennte Wohnbereiche ausbauen könnte für meine Eltern und eine 24-Stunden Betreuerin. Wir erwarben es und bauten es zu einem lebenswerten Alterssitz um.
Meine Mutter verstarb selbstbewusst zwei Monate nach dem Umzug. Zwei Tage vor ihrem Tod sagte sie: „Wahrscheinlich sterbe ich morgen,“ und „Es war schön, vor meinem Tod noch einen neuen Garten betreten zu haben.“ Im Kreis der Familie und mit palliativer Betreuung durch unsere Hausärztin ging sie hinüber.
Mein Vater lebte nahezu 5 weitere Jahre. Es ging ihm relativ gut, aber der Verlust seiner Frau war ihm schrecklich. Wir unterhielten uns offen über Selbstmord und aktive Sterbehilfe in der Schweiz. Die medizinische Betreuung durch unseren Hausarzt war wirklich umsichtig, auch eine Palliativärztin unterstützte uns sehr großzügig. In unseren Gesprächen nahm sie meinem Vater und mir viel Druck von den Schultern, konnte sie die Ängste vor dem Sterbevorgang mindern. Erst in den letzten Monaten benötige ich die Unterstützung zweier 24-Stunden Pflegerinnen – zwei starke, freundliche, kompetente Frauen, die uns von der Volkshilfe vermittelt wurden.
Dann kam der 1. Lockdown mit allen organisatorischen Überraschungen, Turbulenzen und verfassungswidrigen Übergriffen unserer Regierung. Die beiden Frauen wollten nachvollziehbarerweise heim zu ihren Familien in der Slowakei.
Meine Tochter hatte Angst, meinen mittlerweile 102 Jahre alt gewordenen Vater nicht mehr lebend sehen zu dürfen und litt sehr darunter.
Mein Vater entschied bei sehr klarem Bewusstsein, dass es ihm viel mehr um gelebte Gemeinschaft ging als um das Hinauszögern des Sterbevorganges in Einsamkeit. Außerdem beobachtete er die Angstpropaganda unserer Regierung mit Skepsis.
Wir hielten telefonischen Familienrat und entwickelten gemeinsam eine Strategie.
Die 24-Stunden Pflegerin brachte ich zur slowakischen Grenze und bei der Rückfahrt holte ich meine Tochter und ihren Lebensgefährten aus Wien ab. Sie zogen in das Haus, mein Vater hatte wieder ein Familienleben, es wurde geplaudert, spazieren gegangen, Wein getrunken und gut gekocht. Er blühte noch einmal richtig auf.
Absurderweise wurde die Hollabrunner Palliativabteilung wegen SARS-CoV-2 zugesperrt – eine der vielen, vielleicht gut gemeinten, aber oft widersinnigen und nicht selten grausamen Maßnahmen, die seit mittlerweile 10 Monaten gegen die fundierten Ratschläge evidenzbasierter Mediziner und Public-Health-Kundiger aktionistisch durchgezogen werden.
Mein Vater überlebte glücklicherweise all diesen Irrsinn, bis er letzten Juli in Aufbruchstimmung am Weg zum Heurigen wegen Herzversagens zusammenbrach, wenige Tage nach seinem 103. Geburtstag.
Mir ist bewusst, dass unsere Familie in dieser Situation durchaus privilegiert war und wir die finanzielle und organisatorische Freiheit hatten – und sie uns auch nahmen – so zu handeln wie wir es für richtig hielten.
Unzählige Menschen haben diese Möglichkeit nicht.
Was ich wirklich schwer ertrage, ist die unbewusste oder auch gezielt eingesetzte Heuchelei, das Schüren von Ängsten und die moralisierende Bevormundung freier Mitmenschen durch inkompetente, empathiebefreite und selbstgerechte Volksvertreter – bei denen ich mich frage, ob sie eine Ahnung davon haben, was Leben und Sterben wirklich ist. Ja, es ist schwierig und es gibt den einen, einzig richtigen Weg nicht. Gerade deswegen bedarf es des offenen Diskurses, der umsichtigen Planung und der wohlüberlegten Durchführung ausgewogener Maßnahmen.
Gerade im Gesundheitswesen und im hohen Alter wird das Private zunehmend politisch. Die Verantwortung für Leben und Tod sollte nicht im falschen Sinne vom Staat vereinnahmt werden. Der Staat und die Krankenkassen haben mit unseren Steuern für eine funktionierende Infrastruktur, Ausbildung und gute Bezahlung der Arbeitnehmer im Pflege- und Gesundheitsbereich zu sorgen. In das Privatleben der Mitmenschen hat der Staat nicht willkürlich einzugreifen. Sich für etwaige Versäumnisse an den Staatsbürgern abzuputzen, Ärzte zu diffamieren und Zwietracht zu sähen ist niederträchtig und zutiefst verantwortungslos.